Er kann das nicht verstehen, dachte Anton-Rumata. Wie sollte er auch? Er hat Glück gehabt, er weiß nicht, was der Graue Terror ist und Don Reba. Alles, was er im Lauf von fünfzehn Jahren auf diesem Planeten gesehen hat, fügt sich so oder anders in den Rahmen der Basistheorie. Und wenn ich von Faschismus zu ihm spreche, über die Grauen Sturmowiki, über die Aktivierung des Kleinbürgertums, so faßt er das als emotionale Wortspielerei auf: >Treiben Sie keinen Scherz mit der Terminologie, Anton! Terminologische Verwirrungen ziehen gefährliche Konsequenzen nach sich!< Er kann und kann es nicht verstehen, daß das Durchschnittsniveau mittelalterlicher Bestialität genau dem glücklichen gestrigen Tag von Arkanar entspricht. Don Reba ist für ihn so etwas wie ein Richelieu, ein kluger und weitsichtiger Politiker, der den Absolutismus vor feudalen Auswüchsen verteidigt. Als einziger auf diesem Planeten sehe ich den schrecklichen Schatten, der über das ganze Land kriecht, bloß kann ich nicht verstehen, woher dieser Schatten kommt und wozu … Und wie soll ich ihn denn überzeugen, wenn ich doch seinen Augen ansehe, daß er mich am liebsten gleich jetzt zur Erde zurückschicken möchte, um mich dort zu kurieren. »Wie geht es dem edlen Synda?« fragte Rumata. Don Kondor hörte nun auf, ihn zu mustern, und murmelte: »Gut, ich danke Ihnen.« Dann sagte er:
»Wir müssen endlich einmal zur Kenntnis nehmen, daß weder du noch ich und keiner von uns die greifbaren Früchte seiner Arbeit sehen wird. Wir sind nicht Physiker, sondern Historiker. Für uns ist die Zeiteinheit nicht die Sekunde sondern das Jahrhundert, und unsere Arbeit hier ist nicht einmal die Saat, wir bereiten bloß den Boden für die Aussaat. Und da kommen von Zeit zu Zeit von der Erde … na, sagen wir Enthusiasten, der Teufel soll sie holen … Sprinter mit zu kurzem Atem …«
Rumata lachte schief und zog ohne besondere Notwendigkeit an seinen Reitstiefeln. Sprinter. Ja, Sprinter gab es. Zehn Jahre zuvor hatte Stefan Orlowskij, alias Don Kapada, der Kommandeur der Brustwehrrotten Seiner kaiserlichen Hoheit, zur Zeit der öffentlichen Folterung von achtzehn estorischen Hexen seinen Soldaten befohlen, das Feuer auf die Männer zu eröffnen, er hatte mit eigener Hand den kaiserlichen hohen Richter und zwei seiner Gehilfen erschlagen und war schließlich von den Speeren der kaiserlichen Leibwache durchbohrt worden. In Todesqualen hatte er noch aus Leibeskräften gerufen: »Ihr seid doch Menschen! Schlagt auf sie ein, fürchtet euch nicht!« Aber kaum einer hatte ihn in dem Gebrüll der Menge gehört: »Zündet sie an! Noch mehr Feuer!…«
Ungefähr zur selben Zeit zettelte Karl Rosenblum, einer der geschätztesten historischen Experten für die Bauernkriege in Deutschland und Frankreich, alias Pani-Pas, Wollhändler, unter den murischen Bauern einen Aufstand an, nahm zwei Städte im Sturm und wurde durch einen Pfeil in den Rücken getötet, als er dabei war, den Plünderungen Einhalt zu gebieten. Er lebte noch, als man ihn mit dem Hubschrauber herausholte, aber sprechen konnte er nicht mehr, sondern blickte nur schuldbewußt und ein wenig verwundert aus seinen großen blauen Augen, aus denen Tränen flossen … Und kurz vor der Ankunft Rumatas auf diesem Planeten hatte der großmächtig mitverschworene Vertraute des Tyrannen von Kaisan (Jeremy Toughnut, ein Spezialist für Reformen auf der Erde) ganz plötzlich aus heiterem Himmel eine Palastrevolution inszeniert, die Macht an sich gerissen, versucht, in zwei Monaten das goldene Zeitalter einzuführen, sich hartnäckig geweigert, auf die heftigen Interpellationen der Nachbarn und der Erde zu antworten, sich den Ruhm eines Verrückten verdient, die acht Versuchungen glücklich vermieden, war dann schließlich vom Einsatzkommando der Mitarbeiter des Instituts gefaßt und auf einem Unterseeboot auf eine Inselbasis in der Nähe des Südpols gebracht worden … »Wenn man sich das so vorstellt!« brummte Rumata mehr für sich. »Und auf der ganzen Erde glaubt man bis auf den heutigen Tag, daß sich mit den kompliziertesten Problemen die Null-Physiker befassen …«
Don Kondor hob den Kopf. »Ah, endlich«, sagte er halblaut.
Man hörte das Stampfen von Hufen, das böse und jammernde Wiehern des Chamacharisdien Hengstes und energisches Fluchen einer stark irukanisch akzentuierten Stimme. In der Tür erschien Don Hug, der erste Kammerdiener Seiner Herrlichkeit des Herzogs von Irukan. Er war dick, hatte rote Wangen und einen keck aufgezwirbelten Schnurrbart, verzog seinen Mund beim Lachen bis zu den Ohren, und unter den Wellen seiner kastanienbraunen Perücke saßen zwei lustige kleine Augen. Und wieder war Rumata nahe daran, den Neuankömmling zu umarmen – es war sein Jugendfreund Paschka; aber Don Hug nahm plötzlich Haltung an, auf seinem dicken Gesicht zeigte sich das süßliche Lächeln der Etikette, er neigte sich gewandt vor bis zum Gürtel, drückte seinen Hut gegen die Brust und spitzte die Lippen, als wollte er flöten. Rumata blickte verstohlen zu Alexander Wassilewitsch. Alexander Wassilewitsch war verschwunden. Auf der Bank saß wieder der oberste Richter und Staatssiegelbewahrer, Don Kondor, mit gestreckten Beinen, die linke Hand in die Seite gestemmt, mit der rechten hielt er den Griff seines vergoldeten Schwertes.
»Sie haben sich sehr verspätet, Don Hug«, sagte er mit unangenehmer Stimme.
»Bitte tausendmal um Vergebung!« rief Don Hug und näherte sich gewandt dem Tisch. »Ich schwöre bei der Rachitis meines Herzogs, völlig unvorhergesehene Umstände! Viermal hat mich die Patrouille Seiner Hoheit des Königs von Arkanar angehalten, und zweimal mußte ich mich mit irgendwelchen Gaunern herumschlagen.« Mit Eleganz erhob er seine linke Hand, die in ein blutdurchtränktes Tuch eingeschlagen war. »Übrigens, edle Dons, wem gehört der Hubschrauber hinter der Hütte?«
»Das ist meine Maschine«, sagte Don Kondor zänkisch. » Ich habe keine Zeit für Raufereien unterwegs.«
Don Hug zeigte ein freundliches Lächeln, setzte sich rittlings auf die Bank und sagte:
»Und so, edle Dons, sind wir also gezwungen zu konstatieren, daß der hochgelehrte Dr. Budach auf geheimnisvolle Weise irgendwo zwischen der irukanischen Grenze und dem Platz der Schweren Schwerter verschwunden ist …«
Vater Kabani drehte sich plötzlich um auf seinem Lager. »Don Reba …«, sagte er dumpf, ohne aber aufzuwachen. »Überlaßt Budach mir«, sagte Rumata mit Verzweiflung in der Stimme, »und versucht doch, trotz allem, mich zu verstehen …«
Rumata fuhr zusammen und schlug die Augen auf. Es war schon heller Tag. Unter den Fenstern auf der Straße gab es Radau. Irgendwer, offenbar ein Soldat, brüllte: »Halunke, elendiger! Du wirst diesen Dreck mit deiner Zunge auflecken! (Guten Morgen, dachte Rumata) Rrrruhe!… Ich schwöre dir beim Buckel des heiligen Micky, du bringst mich noch ganz aus der Fassung!« Eine andere Stimme, grob und heiser, murrte, man müsse in dieser Gasse genau aufpassen, wo man hinsteige. »In der Früh hat es geregnet, aber gekehrt hat man, na, ihr wißt schon, wann …« – »Er wird mir schon zeigen, wohin man schauen muß …« – »Ihr laßt mich besser los, edler Don, haltet mich nicht am Hemd!« – »Er wird mir schon noch zeigen …« Man hörte ein lautes Klatschen. Offenbar war das schon die zweite Ohrfeige, die erste hatte Rumata geweckt. »Ihr schlagt mich besser nicht mehr, edler Don …«, murrte es unten.
Eine bekannte Stimme. Wer konnte das nur sein? Wahrscheinlich Don Tameo. Ich werde ihn heute dieses chamacharische Ungeziefer zurückgewinnen lassen. Es wäre interessant zu sehen, ob ich es wohl jemals lernen werde, ein gutes Pferd von einem schlechten zu unterscheiden. Allerdings hat sich unsere Familie nie mit Pferden ausgekannt. Dafür sind wir Experten für Kampfkamele. Gut, daß es in Arkanar fast keine Kamele gibt. Rumata streckte sich, daß die Glieder knackten, er tastete am Kopfende nach einer gedrehten seidenen Schnur und zog einige Male daran. Im Innern des Hauses klirrten kleine Glöckchen. Der Bursche gafft natürlich zum Fenster hinunter und bestaunt den Radau. Man könnte ja aufstehen und sich selber ankleiden, aber dann gibt es nur wieder Redereien. Er horchte wieder auf das Geschimpfe unter dem Fenster. Wozu doch die menschliche Zunge fähig ist! Eine ganze unwahrscheinliche Entropie. Wenn Don Tameo sie ihnen bloß nicht abschneidet … In letzter Zeit, dachte Rumata weiter, sind in der Garde ein paar Besserwisser aufgetaucht, die erklären, daß für den edlen Kampf nur ein Schwert existiert, das andere aber verwenden sie nur für Straßenraufereien – und ihren Sorgen schenkt Don Reba wohl etwas zu viel Aufmerksamkeit im schönen Arkanar. Übrigens, Don Tameo zählt nicht zu ihnen. Er ist ein wenig feige, der gute Don Tameo, und ein unverbesserlicher Biertischpolitiker …
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