Baumann lacht. «Welchen Teil von Gott haben Sie denn nicht verstanden, Dr. Jakobi?»
«Sie wollen mir also sagen, dass Sie Gott, der Allmächtige, sind», präzisiere ich.
«Gott, der Allmächtige», wiederholt Baumann und schmeckt den Wörtern nach. «Das ist leider lange her. Ich bin nicht mehr allmächtig. Wenn ich es noch wäre, dann säßen wir jetzt nicht hier.»
«Gott ist nicht allmächtig?», wundere ich mich.
«Nicht die Bohne», bestätigt Baumann.
«Aber das war nicht immer so», werfe ich ein.
«Nein. Die ersten Probleme haben sich zwar schon vor langer Zeit angekündigt, aber so richtig schlimm ist es vor etwas mehr als zwanzig Jahren geworden.»
Ich ahne, dass wir uns dem Trauma nähern, das für Baumanns Psychose verantwortlich oder zumindest mitverantwortlich sein könnte. «Es gab also einen konkreten Auslöser.»
Baumann nickt, zögert aber, weiterzusprechen.
Ich mache eine aufmunternde Geste, doch er schüttelt den Kopf und lehnt sich wieder zurück. «Heute nicht. Unsere Zeit ist gleich rum.»
Erstaunt schaue ich auf die Uhr. «Nein. Wir haben noch genug Zeit. Außerdem habe ich sowieso gerade nichts Besseres vor.»
«Doch», sagt Baumann. «Sie werden gleich freigelassen. Ich muss leider noch eine Weile hier bleiben. Aber das ist kein Problem. Gegen Abend komme ich auch raus.»
Hab ich was nicht mitbekommen? Ich erhebe mich und schaue durch das kleine vergitterte Türfenster. «Niemand da», verkünde ich.
Einen Atemzug später wird am Ende des Ganges eine Tür entriegelt, und Polizeioberrat Schavinski erscheint in Begleitung einer seiner Mitarbeiter.
Erstaunt blicke ich zu Baumann.
Der zuckt mit den Schultern. «Ein bisschen was hab ich schon noch drauf», sagt er. «Immerhin bin ich ja Gott.»
Die Zellentür öffnet sich, und Schavinski tritt ein.
«Ihr Bruder wartet draußen. Sie können gehen. Wenn wir noch Fragen haben, melden wir uns.» Er blickt zu Baumann. «Sie müssen leider noch eine Weile hierbleiben. Aber wir arbeiten dran, dass Sie heute auch im eigenen Bett schlafen können.»
«Rufen Sie mich an?», frage ich Baumann.
Der nickt, zieht eine Visitenkarte hervor und drückt sie mir in die Hand. «Falls Sie in der Gegend sind, schauen Sie einfach vorbei.»
Ich werfe einen kurzen Blick auf die Karte. «Keine Telefonnummer?»
«Brauch ich nicht. Ich weiß, wenn Sie kommen.»
Der Revierleiter wirft mir einen besorgten Blick zu.
«Mein Patient macht Witze», sage ich und stecke die Karte in meinen Bademantel.
Mein Bruder trägt teuren Zwirn, lehnt lässig an seiner Nobelkarosse und raucht eine Filterlose. «Du siehst scheußlich aus», sagt er zur Begrüßung.
«Ich freu mich auch, dich zu sehen», erwidere ich und öffne rasch die Beifahrertür, weil ein eiskalter Wind durch meinen Bademantel weht.
Jonas schnippt seine Zigarette weg, steigt ein und startet den Motor. Dann greift er nach einer Packung Nikotinkaugummis und schiebt sich eines in den Mund. «Stell dir vor! Mit diesen Dingern bin ich jetzt schon runter auf zwanzig am Tag. Toll, oder?» Er lässt den Wagen langsam in den stockenden Verkehr rollen.
«Toll», bestätige ich. «Dein Husten klingt auch schon viel heller.»
Er nickt zufrieden. «Perspektivisch will ich es mir ja ganz abgewöhnen», sagt er. «Geht nur gerade im Moment nicht. Zu viel Stress.»
Eine Weile kämpfen wir uns schweigend durch die mittägliche Rushhour.
«Jakob?»
«Mm?»
«Wie schlecht geht es dir eigentlich wirklich?» Es klingt, als wäre er auf eine höchst dramatische Weise beunruhigt. Den Hang zum Theatralischen hat er von Mutter geerbt.
Da ich keine Lust habe, mit meinem erfolgreichen Bruder über meine Misserfolge zu reden, sage ich: «Gut. Sie tut kaum noch weh.»
Er wirft mir einen ärgerlichen Seitenblick zu. «Du weißt ganz genau, dass ich nicht deine Nase meine.»
«Sondern?», frage ich mit gespieltem Erstaunen. Es ist ein absichtlich schlecht gespieltes Erstaunen.
Jonas verdreht genervt die Augen. «Ich meine natürlich deine finanzielle Situation. Abgesehen davon finde ich es etwas beunruhigend, wenn ich meinen Bruder bei der Polizei aufgabeln muss.»
«Ich hab einem Patienten geholfen», sage ich. «Und was meine finanzielle Situation betrifft: Geht so.»
«Hab ich mir fast gedacht. Brauchst du Geld?»
«Nein. Ich komm schon über die Runden.»
«Mutter macht sich aber Sorgen», sagt er, und wieder ist da dieser Anflug von Pathos in seiner Stimme.
«Ich weiß», erwidere ich. «Das ist ihr großes Hobby, seit Vater tot ist. Das hat aber nichts mit mir zu tun. Sie kompensiert nur, dass es niemanden mehr gibt, den sie bemuttern kann.»
«Sie hat Vater nicht bemuttert.» Jonas sagt es mit Nachdruck. Wie immer, wenn wir im Gespräch an diesen Punkt kommen, will er der Wahrheit nicht ins Auge sehen.
«Sie hat ihm Papieruntersetzer unters Glas geschoben, damit er beim Saufen keine Kringel auf den Tisch macht. Und sie hat stillschweigend die Karaffe mit seinem Fusel nachgefüllt. Wenn du mich fragst, dann hat sie ihn nicht nur bemuttert, sie hat ihn zu Tode bemuttert.»
Jonas schnauft verärgert. «Jakob, du bist ein ganz schlimmes Schandmaul.»
«Ich vermute, das liegt in der Familie», erwidere ich.
Jonas hat gar nicht zugehört. «Und du bist undankbar», fährt er fort. «Wir wollen dir ja schließlich nur helfen.»
Das stimmt sogar, allerdings ist der Preis, den ich dafür zahle, hoch. Als ich meinen Bruder zuletzt angepumpt habe, musste ich mir einen sehr langen Vortrag über die moralische Verkommenheit von Leuten
mit Konsumschulden anhören. Dabei hatte ich gar nicht vor, mit seinem Geld einen Teleshoppingkanal leer zu kaufen, ich wollte nur die nächste Miete finanzieren. Damals dachte ich irrtümlicherweise noch, meine Pechsträhne wäre nicht von Dauer. Jedenfalls habe ich an diesem Tag begriffen, dass mein Bruder nur Banker geworden ist, damit er sich moralisch überlegen fühlen kann. Im Grunde verachtet er Armut als ein Zeichen von Schwäche.
Wenn Jonas mir jetzt generös von sich aus Geld anbietet, dann entweder, weil er etwas im Schilde führt, oder weil ich in seinen Augen endlich so tief gesunken bin, dass sein moralischer Sieg auf der Hand
liegt.
«Ich kann dir nicht mal eben aus der Patsche helfen, wenn ich erst in Florida bin», erklärt Jonas. Klingt, als würde er mir alle paar Tage das Leben retten. Dabei ist es schon was Besonderes, dass er seine wertvolle Mittagspause opfert, um mich bei der Polizei aufzulesen. Eigentlich braucht Jonas seine Mittagspause nämlich, um durchzuarbeiten.
«Also, wenn du Geld brauchst, sag es einfach», setzt er nach. «Und sag es bitte bald.» Er lässt sein Fenster heruntersurren, zieht eine Zigarette hervor und zündet sie an.
Es wird binnen zwei Sekunden arschkalt. Da ich meinem Bruder in seinem eigenen Wagen nicht das Rauchen verbieten will, schweige ich und kuschele mich, so gut es geht, in meinen Bademantel. Die gefühlte Temperatur liegt trotzdem unterhalb des Gefrierpunktes. Bald fühlen sich meine Lippen taub an, und ich schlottere ein wenig.
«Ist dir kalt?»
«Bisschen», sage ich zähneklappernd.
Er wirft die Zigarette hinaus und lässt das Fenster wieder hochsurren. «Sag doch was, Mensch!»
«Du hast mir noch nie Geld angeboten», stelle ich fest, als sich meine Körpertemperatur normalisiert hat. «Und du hast zuletzt Mittagspause gemacht, als es eine Bombendrohung in deiner Bank gab.»
Jonas wirft mir einen irritierten Seitenblick zu. Er wirkt verunsichert.
«Willst du mir nicht einfach sagen, was du wirklich auf dem Herzen hast?»
Er wirkt ertappt, greift nach seinen Nikotinkaugummis, steckt sich gleich zwei in den Mund und überlegt. Ich warte.
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