Erneut wird die Tür geöffnet, und jener schlaksige Typ mit ungesunder Hautfarbe, der sich mir letzte Nacht als Dr. Kessels vorgestellt hat, erscheint.
«Hallo! Wie geht es Ihnen?»
Ich zucke mit den Schultern. «Danke. Eigentlich ganz gut.»
«Das freut mich», sagt er und hustet heiser. «Tut mir leid, dass Sie noch bis morgen hierbleiben müssen, aber ich möchte kein Risiko eingehen. Sonst sterben Sie womöglich ausgerechnet heute Nacht, und dann heißt es wieder, ich hätte die OP verbockt.»
«Und? Haben Sie sie verbockt?», frage ich launig.
«Natürlich habe ich sie verbockt», erwidert er und schielt auf meinen Becher mit Schmerztabletten. «Anfängerfehler. Ich habe der Narkoseschwester eine falsche Anweisung gegeben. Ist aber nur passiert, weil ich seit fast fünfzig Stunden auf den Beinen bin.»
«Hört sich an, als müssten Sie den Laden allein schmeißen», werfe ich ein.
«Sagen wir so: Das aktuelle Gesundheitssystem ist nicht gerade arbeitnehmerfreundlich.» Er lässt meine Pillen nicht aus den Augen.
«Eine würde ich Ihnen abtreten», sage ich. «Die andere brauche ich vielleicht noch selbst.»
«Hey! Das ist aber nett von Ihnen! Danke!» Er fischt eine der Pillen aus dem Plastikbecher und schiebt sie sich in den Mund. «Sie müssen sich jedenfalls keine Sorgen machen. Ich bin sicher, morgen früh ist alles überstanden. Und Ihre Nase dürfte auch wieder wie neu werden.»
«Was genau ist denn eigentlich mit mir passiert?», frage ich.
Er öffnet die Pillenschachtel meines Bettnachbarn und pickt sich ein paar Tabletten heraus, als wären es Erdnüsse. «Nichts Besonderes. Ihr Herz ist stehengeblieben.»
«Oh», erwidere ich verblüfft.
«Nur ein paar Minuten.»
«Ehrlich gesagt klingt das für mich ziemlich lange.»
«I wo!», erwidert er und wirft sich seine gesammelten Pillen in den Mund. «Es klingt dramatischer, als es ist. Stimmt schon, in gewisser Weise waren Sie eine kurze Weile tot. Und vor zweihundert Jahren wären Sie es wohl auch geblieben.» Er lacht kurz auf und hustet ein paarmal. «Aber für uns heute ist das Routine. Kein Grund zur Panik.»
«Dann ist es ja ein hübscher Zufall, dass ich noch am Leben bin.»
«Das ist die richtige Einstellung!», entgegnet er und wendet sich zur Tür. «Ich muss zurück in den OP. Komplizierte Herzgeschichte. Wir sollten ihm beide die Daumen drücken. Kann ich noch was für Sie tun?»
Ich will schon den Kopf schütteln, da fällt mir doch noch etwas ein. «Draußen stehen ein Kerl um die vierzig und eine ältere Dame mit kurzen, dunklen Haaren. Könnten Sie denen bitte sagen, dass ich Ruhe brauche und jetzt nicht mehr gestört werden darf?»
Er lächelt. «Familie, was? Kein Problem. Ich wimmel die beiden ab.»
Im nächsten Moment ist er verschwunden. Sofort meldet sich mein schlechtes Gewissen. Ich benutze eine schäbige Ausrede, um Mutter und Jonas wegzuschicken, obwohl die beiden nur meinetwegen den ganzen Tag im Krankenhaus verbracht haben. Mein Gewissen zwickt mich zum Glück nicht lange. Zum einen werde ich mir noch viele Jahre anhören müssen, wie meine engste Familie heute aufopferungsvoll um mein Leben gefiebert hat. Zum anderen bin ich tatsächlich hundemüde. Meine Notlüge war also lediglich eine kleine Übertreibung. Langsam fallen mir die Augen zu.
Als ich wieder erwache, herrscht tiefste Nacht. Draußen ist es zappenduster. Der Raum wird nur vom matten Schein des Fernsehbildschirms erleuchtet. Meine Bettnachbarn sehen sich einen alten Film an. Die beiden sind nun hellwach. Man hört Tütenknistern und Essgeräusche.
Ich konzentriere mich auf den Bildschirm und erkenne James Stewart. Gerade spricht er mit einem freundlichen Kerl in altmodischer Unterwäsche. Die Szene kommt mir bekannt vor. Das ist einer dieser Streifen, die jedes Jahr zu Weihnachten wiederholt werden. Ich überlege, wie der Film heißt, und erinnere mich, dass James Stewart sich das Leben nehmen will und der freundliche Kerl ein Engel ist, der ihn retten soll. Ich glaube, das Wort Leben kommt sogar im Titel vor. Während ich angestrengt überlege, werde ich erneut von bleierner Müdigkeit gepackt. Wieder fallen mir die Augen zu, und wieder werde ich ins Reich der Träume hinabgezogen.
Als ich erwache, fühle ich mich frisch und ausgeruht. Es ist Morgen. Die Wintersonne taucht den Raum in kaltes Licht. Erstaunt stelle ich fest, dass meine Zimmernachbarn verschwunden sind, und zwar mitsamt ihren Betten. Ich setze mich auf und schaue mich um.
«Ich dachte, ein Einzelzimmer wäre Ihnen lieber», höre ich Abel Baumann sagen. Er sitzt etwas versteckt an dem kleinen Besuchertisch vor meinem Bett, hat zwei dampfende Tassen Kaffee mitgebracht und hält mir nun eine davon hin. «Möchten Sie? Ist ganz frisch.»
«Danke.» Ich nehme die Tasse entgegen, überlege aber zugleich, ob ich es Baumann ein bisschen krummnehmen sollte, dass er mir bis ans Krankenbett gefolgt ist. Ich mag ihn zwar, und er hat irgendwie eine gute Aura. Trotzdem muss ich darauf achten, die professionelle Distanz zu wahren. Ich nehme einen
Schluck Kaffee. Tut gut. «Wo sind denn die beiden Alten hin, die hier lagen?»
«Die hab ich in ein anderes Zimmer verlegen lassen», sagt Baumann.
Erst jetzt fällt mir auf, dass er sein Clownskostüm gegen einen Arztkittel getauscht hat.
«Arbeiten Sie etwa hier?», frage ich irritiert.
Baumann streicht über seine grauen Bartstoppeln. «Nein. Den Kittel hier hab ich nur geliehen.»
Er sieht mein fragendes Gesicht und fügt hinzu: «Ehrlich gesagt, mache ich das häufiger, dass ich mir ... ähm ... Dinge leihe.»
«Sie leihen sich einen Arztkittel und lassen Patienten verlegen?», frage ich mit kritischem Blick.
Baumann zuckt mit den Schultern. «Wenn mich schon alle hier für den neuen Chefarzt halten, dann kann ich es uns doch auch ein bisschen nett machen, oder? Außerdem schulden die mir was. Immerhin hab ich schon Visite gemacht.»
«Sie haben ... Visite gemacht?», frage ich erschrocken. «Das ist definitiv nicht in Ordnung. Ich hoffe, Sie wissen das.»
Baumann winkt ab. «Ich hab den Leuten nur Mut zugesprochen. Dafür kommt man ja wohl nicht gleich in den Knast, oder?»
«Oh. Da wäre ich mir nicht so sicher.»
«Eigentlich bin ich ja auch nicht der Visite wegen gekommen. Ich wollte sehen, wie es Ihnen geht. Und ich dachte, nebenbei könnten wir einen Termin für unsere erste Sitzung ausmachen. Hat ja gestern nicht geklappt.»
«Stimmt.» Mir fällt ein, dass ich heute entlassen werden soll. Wir könnten uns später treffen. «Sie sind nicht zufällig mit dem Auto da, oder?»
Baumann schüttelt den Kopf. «Ich gehe meistens zu Fuß.»
Ich überlege, ob ich Baumann um Taxigeld bitten soll. Ich schulde ihm ja ohnehin noch das Frühstück. Allerdings spricht es nicht gerade für eine funktionierende professionelle Distanz, wenn sich ein Psychologe ständig Geld von seinem Patienten pumpt. Bevor ich den Gedanken zu Ende denken kann, wird die Tür aufgerissen, und die korpulente Krankenschwester erscheint, diesmal in Begleitung von zwei Polizisten.
«Das ist er», verkündet sie und zeigt auf Abel, dessen freundliches Lächeln nicht über sein urplötzliches Unbehagen hinwegtäuschen kann.
«Können Sie sich als Mitarbeiter dieses Krankenhauses ausweisen?», fragt einer der Polizisten in forschem Ton.
Abel schüttelt den Kopf. «Ich hab den Kittel nur geliehen. Ich wollte ihn gleich wieder zurückgeben ...», beginnt er zu erklären, wird aber von dem anderen Polizisten unterbrochen: «Sie müssen mitkommen.»
Rasch und routiniert haken die beiden Beamten den verdutzten Baumann unter und geleiten ihn zur Tür.
«Entschuldigen Sie die Störung», sagt einer der beiden zu mir, der andere nickt zustimmend. Abel sieht mich flehentlich an, schweigt aber. Bevor ich etwas sagen kann, sind die Polizisten mit ihm und der Krankenschwester auf dem Gang verschwunden.
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