«Es gab Komplikationen bei deiner OP», erklärt Jonas. «Dein Leben stand auf Messers Schneide. Um ein Haar hätten sie dich verloren.»
Die Information dringt nur langsam in mein Bewusstsein. Zugleich spüre ich ein seltsames Unbehagen. Ich habe nicht die geringste Erinnerung an die letzten Stunden. Vermutlich hätte ich meinen eigenen Tod verschlafen. Vorsichtig betaste ich meine Nase. Ich erinnere mich nun wieder an Abel Baumann, die Kellnerin und meinen doppelten Knockout.
«Keine Sorge. Sie haben alles wieder gut hinbekommen», erklärt Jonas.
«Aber du musst uns jetzt hoch und heilig versprechen, dass du mit dem Trinken aufhörst», sagt Mutter theatralisch.
Ich blicke fragend zu Jonas, der zuckt ahnungslos mit den Schultern.
«Einer Mutter kann man nun mal nichts vormachen», fährt sie fort. «Ich weiß doch, dass die meisten Komplikationen bei einer Vhllnarkose auftreten, weil es sich bei den Patienten um schwere Alkoholiker
handelt. In solchen Momenten kommt die Wahrheit dann eben doch ans Licht.»
Ich seufze. «Mutter, ich bin kein Alkoholiker.»
«Da habe ich aber von Ellen was ganz anderes gehört. Dem Inhalt deines Kühlschrankes nach zu schließen, ernährst du dich von Billigwein.»
Hätte ich mir ja denken können, dass sich die beiden längst ausgetauscht haben. Meine Exfrau und meine Mutter verstehen sich nämlich blendend. Kein Wunder, denn charakterlich gleichen sie sich wie ein Ei dem anderen. Ich habe ein paar Jahre gebraucht, um zu begreifen, dass ich mit Ellen quasi meine Mutter geheiratet habe, psychologisch gesehen. Das ist zwar schrecklich, aber nachvollziehbar. Ein Therapeut ist ebenso wenig gegen Neurosen gefeit wie ein Zahnarzt gegen Karies. Wobei dieser Vergleich hinkt, weil Zahnschmerzen meist nach ein paar Tagen vorbei sind, während eine neurotische Ehe gerne mal sieben Jahre dauern kann.
«Ellen wollte übrigens auch kommen. Sie hat versucht, ihre Termine zu verschieben. Hat aber nicht geklappt. Sie lässt dich grüßen. Wenn du willst, dann holt sie dich morgen ab.» Mutter zieht ihr Smartphone hervor und entriegelt es mit einem Wisch. «Soll ich ihr simsen?»
«Nein», sage ich. «Und wieso kann ich nicht sofort raus? Mir geht’s gut.»
«Sie wollen dich noch eine Nacht hierbehalten», antwortet Jonas. «Ist nur zur Beobachtung.»
«Also ich würde auch keine Nacht länger als nötig in diesem alten, zugigen Kasten bleiben», erklärt Mutter und zupft an ihrer Kurzhaarfrisur. «Wobei ich gesehen habe, dass in den picobello renovierten Einzelzimmern für die Privatpatienten sogar Plasmafernseher hängen.»
«Wie schade, dass ich kein Privatpatient bin», erwidere ich. «Einen Plasmafernseher hätte ich auch gern gehabt, als ich im Koma lag.»
Mutter verzieht ihre schmalen Lippen zu einem spöttischen Lächeln. «Vielleicht kann dir ja dein Bruder eine Nacht in der gehobenen Zimmerkategorie spendieren.»
«Mutter! Bitte!», wirft Jonas mit gespielter Empörung ein. In Wahrheit könnte er stundenlang zuhören, wenn sie ihn über den grünen Klee lobt.
«Wusstest du eigentlich, dass die Bank ihm einen äußerst lukrativen Job in Übersee angeboten hat?»
Ich nicke Jonas anerkennend zu. «Nein. Aber gratuliere. Und wo da genau in Übersee?»
«Was spielt denn das für eine Rolle?», blafft Mutter.
«Ich finde, es ist schon ein Unterschied, ob er künftig an der Wall Street sitzt oder irgendwo in den Anden.»
«Weder noch», erwidert Jonas herablassend. «Sie wollen, dass ich dabei helfe, eine Investmentbank in Florida aufzubauen.»
Wäre Arroganz ansteckend, müsste mein Bruder jetzt auf die Quarantänestation. Und zwar zusammen mit unserer Mutter.
«Florida», wiederhole ich und pfeife anerkennend. «Das ist doch ein Paradies für Rentner, habe ich gehört. Magst du Mutter nicht mitnehmen? Ihr könntet abends am Strand sitzen, Hummer essen und über mich lästern.»
«Schon klar, dass du mich loswerden willst», erwidert Mutter. «Aber ich bleibe natürlich in Berlin. Erstens würde ich unseren Familiensitz nie im Leben verkaufen, und zweitens kümmert sich eine Mutter immer besonders um jenes Kind, das ihr die größten Sorgen bereitet. Bei Jonas weiß ich, dass er seinen Weg gehen wird. Er ist noch nicht mal vierzig, hat einen guten Job und verdient eine Menge Geld. Es würde mich außerdem nicht wundern, wenn er uns bald eine hübsche Amerikanerin vorstellt ...»
«Mutter, ich habe schon verstanden, dass ich dein Problemkind bin», unterbreche ich. «Aber besten Dank für die vielen verletzenden Details.»
«Gern geschehen», entgegnet Mutter mit einem eiskalten Lächeln.
«Deine Befürchtungen sind übrigens unbegründet», fahre ich fort. «Ich komme gut allein zurecht und habe nicht die Absicht, dich um Hilfe zu bitten.»
Mutter zieht verächtlich Luft durch die Nase. «Du kommst allein zurecht? Da höre ich aber ganz andere Geschichten. Ellen hat mir erzählt, du kannst die Miete nicht bezahlen, weder für das Apartment noch für die Praxis. Außerdem scheinen dir die Patienten nicht gerade die Bude einzurennen.» Sie seufzt bedeutungsvoll. «Ein Glück, dass dein Vater das nicht miterleben muss. Er würde sich ganz bestimmt ...»
Ein energisches, kurzes Klopfen lässt sie verstummen. Dann öffnet eine korpulente Krankenschwester schwungvoll die Tür und verkündet: «Ich bitte jetzt alle Besucher mal kurz auf den Flur. Es dauert nur ein paar Minuten. Vielen Dank!»
Die Visite erspart mir Mutters Vortrag über all jene Enttäuschungen, die ich meinem Vater glücklicherweise nicht mehr zumuten muss, weil er vor fünf Jahren das Zeitliche gesegnet hat. Man könnte sagen: in weiser Voraussicht. Knapp vor seinem Siebzigsten ereilte ihn ein Herzinfarkt. Kein ungewöhnliches Schicksal für einen ebenso arbeitsbesessenen wie unsportlichen Alkoholiker. Wobei Vaters tägliche halbe Flasche Scotch oder Brandy nie als Alkoholismus bezeichnet werden durfte. Da er ausnahmslos nach 17 Uhr trank und nie Anzeichen eines Rausches zeigte, galten seine acht bis zehn doppelstöckigen harten Drinks am Tag offiziell immer als kultivierte Variante des Feierabendbierchens.
Routiniert verteilt die Krankenschwester Medikamente. Meine Bettnachbarn bekommen randvolle Tablettenboxen, nach Tageszeiten sortiert. Auf mein Tischchen stellt sie einen kleinen Plastikbecher mit zwei Pillen darin. «Nur ein mittelschweres Schmerzmittel. Reine Vorsichtsmaßnahme, falls Ihnen heute Nacht die Nase weh tun sollte.»
«Danke», sage ich.
Sie nickt und zieht mit den Worten «Der Arzt ist auch gleich da» die Tür ins Schloss. Ich kann für den Bruchteil einer Sekunde Mutter sehen, die gerade auf Jonas einredet. Bestimmt schildert sie ihm meine desolaten Lebensumstände und spart nicht mit düsteren Farben und apokalyptischen Wendungen. Seit Vaters Tod muss ich mir regelmäßig von ihr anhören, dass ich als Psychotherapeut und Stütze der Gesellschaft eine herbe Enttäuschung bin. Mutter glaubt, dass ich in Vaters viel zu große Fußstapfen treten wollte. Psychologisch gesehen ist das ein Totschlagargument, weil alle Kinder zunächst einmal in die Fußstapfen ihrer Eltern treten wollen. Die Frage ist nur, ob man dem vorgezeichneten Weg dann später wirklich folgt oder davon abweicht.
Ich gebe zu, in meinem Fall scheinen die Dinge klar auf der Hand zu liegen. Mein Vater ist der berühmte Psychologe Bartholomäus Jakobi. Sein Buch über die verkaufspsychologische Wirkung der Spektralfarben gilt als Standardwerk und hat ihm zunächst wissenschaftliche Anerkennung eingebracht, dann diverse Gastprofessuren und damit schließlich eine große Villa in Berlin-Zehlendorf. Obwohl Mutter nicht müde wird, das Haus als unseren Familiensitz zu bezeichnen, lebt sie dort seit Jahren allein und weigert sich, zumindest einen Teil des viel zu großen Anwesens unterzuvermieten.
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