«Du könntest sie belügen», empfiehlt Abel.
«Das sowieso. Glaubst du, ich hab vor, ihr auf die Nase zu binden, dass ihr Lieblingssohn ein international gesuchter Verbrecher ist?»
«Wie gesagt: Falls du es dir anders überlegst ...»
«Danke», sage ich. «Und danke auch für eben.»
Abel nickt, hebt die Hand zum Gruß und verschwindet im Getümmel.
Ich überlege, dass es klug wäre, meine Klamotten aus Jonas’ Wohnung zu holen, bevor ich zu Mutter fahre. Sonst muss ich nämlich später noch mal in die Stadt. Vielleicht wäre das aber auch gar nicht so schlecht, denke ich. Auf diese Weise hätte Mutter heute Mittag ein bisschen Zeit für sich.
Als ich vor meinem Elternhaus stehe, schnürt mir der Anblick die Kehle zu. So verschneit und verträumt, wie das imposante Anwesen gerade daliegt, beschwört es die Erinnerung an unbeschwerte Kindertage herauf. An Schlittenfahrten, Schneeballschlachten und einen Bernhardiner namens Nepomuk, der viele Jahre zur Familie gehörte, bis Mutters exzessiver Zigarettenkonsum ihn dahinraffte. Nepomuk starb an einer Raucherlunge, Mutter gewöhnte sich die Zigaretten daraufhin ab. Wir verdanken dem Hund also immerhin ein paar rauchfreie Jahre.
Ein Fenster in der oberen Etage wird geöffnet.
«Überlegst du, ob du vor dem richtigen Haus stehst, oder hast du mein Geschenk vergessen?», ruft Mutter. «Komm lieber rein, sonst denken die Nachbarn noch, dass ich dich an Heiligabend vor die Tür gejagt habe.»
Bevor ich antworten kann, wird das Fenster wieder geschlossen.
«Schön, dass ich dich noch sehe», sagt sie, als ich das Haus betrete. Sie drückt mir einen schnellen Kuss auf die Wange.
Mein Blick fällt auf einen Koffer, der im Flur steht. «Was ist das?»
«Ein Koffer.»
«Das sehe ich. Aber was hat es damit auf sich?»
Sie lächelt verschmitzt. «Ich will Jonas überraschen. Deshalb fliege ich gleich nach Florida.»
«Aber ... das ... ist ...», stottere ich entsetzt.
«Er hat mich gestern noch vom Bahnhof aus angerufen und mir erklärt, dass da dieser Weihnachtsempfang in der Bank stattfindet und der Vorstand von ihm erwartet, dass er seine neuen Mitarbeiter begrüßt. Aber er klang irgendwie traurig. Deshalb habe ich mir letzte Nacht überlegt, dass ich einfach hinfliege und die Feiertage mit ihm verbringe.»
«Aber ... das ist viel zu weit», sage ich hilflos.
«Nein. Wegen der Zeitverschiebung gewinne ich sechs Stunden. Und Jonas muss ja am Nachmittag sowieso noch zu diesem Empfang in der Bank. Inzwischen werde ich ihm sein Leibgericht kochen.»
«Und was ist mit mir?», frage ich vorwurfsvoll. Ich bin gerade so perplex, dass mir kein vernünftiges Argument gegen ihren Plan einfällt. Deshalb schrecke ich nicht davor zurück, sie moralisch unter Druck zu setzen.
«Komm doch einfach mit», sagt sie. «Gestern gab es noch genügend freie Plätze im Internet. Wenn du willst, können wir gleich mal nachschauen.»
Ich starre sie ratlos an. Was mache ich jetzt?
«Wenn dir der Flug zu teuer ist, dann schenke ich ihn dir einfach zu Weihnachten», sagt sie mit einem milden Lächeln. «Ungewöhnliche Situationen erfordern manchmal ungewöhnliche Maßnahmen.»
Ich lasse mich auf dem Treppenabsatz nieder.
«Was ist denn?», fragt sie verstimmt. «Sag jetzt bitte nicht, dass du beleidigt bist, weil ich deinen Bruder am Weihnachtsabend in diesem völlig fremden Land nicht allein lassen möchte.»
«Jonas ist nicht in Florida», bringe ich mühsam hervor.
«Doch, das hat er mir gestern selbst gesagt.» Sie kramt einen Hochglanzprospekt aus ihrer Tasche und zeigt ihn mir. Es ist eine Broschüre, mit der potenzielle Käufer für Luxusapartments in Miami geworben werden sollen. «Und schau! Ich weiß sogar, wo er wohnt.»
«Mutter, Jonas ist nicht in Florida. Er hat ein paar berufliche . Probleme, wollte dich damit aber nicht behelligen.»
Sie wirkt kein bisschen verunsichert, eher ein wenig verärgert. «Jakob, was redest du da schon wieder für einen Quatsch?»
«Das ist kein Quatsch. Ich möchte dich davor bewahren, geschlagene zehn Stunden im Flieger zu sitzen, nur um dann herauszufinden, dass dein Sohn nicht da ist, wo du ihn vermutest.»
Sie greift ganz selbstverständlich nach ihrem Mantel und erwidert amüsiert: «Ach, Jakob! Du hast dir schon als Kind immer seltsame Geschichten ausgedacht, um deinen Bruder in Schwierigkeiten zu bringen. Weißt du noch, wie du Jonas einen ganzen Tag lang im Keller eingesperrt hast? Wir sollten glauben, dass er von zu Hause weggelaufen ist. Erst als wir die Polizei rufen wollten, hast du kalte Füße bekommen und alles gestanden.»
Ich beschließe kurzerhand, Mutter jetzt den gleichen Bären aufzubinden, den Jonas mir aufgebunden hat: Dass sein Job ihm gegen den Strich geht. Dass er in den Staaten neu anfangen will. Dass er sich nach einem ruhigen Leben abseits der stressigen Hochfinanz sehnt. Mutter hat ja eben selbst gesagt, dass ungewöhnliche Situationen ungewöhnliche Maßnahmen erfordern. Also mache ich ein zerknirschtes Gesicht und beginne mit meiner Lügengeschichte.
Sie hört ruhig zu, überlegt dann einen Moment und folgert blitzschnell: «Dann ist Jonas also doch in Miami.»
«Ja und nein», improvisiere ich. «Er wollte in Ruhe über seine Zukunft nachdenken. Deshalb hat er sich ein Wohnmobil gemietet, um über die Keys zu fahren.»
Sie sieht mich mit einem fast mitleidigen Blick an.
«Ausgerechnet an Heiligabend?», hakt sie argwöhnisch nach.
«Ausgerechnet an Heiligabend», bestätige ich nickend.
Sie hält mir ihren Mantel hin, damit ich ihr helfen kann, hineinzuschlüpfen.
«Warum erzählst du mir solche Märchen?», fragt sie. «Jonas hat mir gesagt, dass du bei ihm wohnst, weil du gerade mittellos bist und quasi auf der Straße stehst. Dankt man seinem Bruder eine solche Großzügigkeit, indem man Lügen über ihn verbreitet?»
Mein schwerkrimineller Bruder brüstet sich damit, mich vor der Obdachlosigkeit zu bewahren. Jonas hat wirklich Nerven.
Es klingelt.
«Das wird mein Taxi sein», sagt Mutter und sortiert Schal und Halstuch.
«Schick es wieder weg», bitte ich. «Ich sage dir jetzt endgültig die Wahrheit: Jonas hat in der Bank ein paar klitzekleine Buchungsfehler gemacht. Deshalb ermittelt möglicherweise die Polizei gegen ihn. Und weil er seine Unschuld beweisen will, wird er die Weihnachtstage durcharbeiten.»
«Umso mehr braucht er meine Unterstützung», sagt sie prompt. Ihr Ton lässt keinen Zweifel darüber, dass sie auch diese Geschichte für eine glatte Lüge hält. Ich glaube ihr sogar anzumerken, dass sie nicht einmal eine Sekunde darüber nachgedacht hat, ob nicht vielleicht doch ein Fünkchen Wahrheit darin stecken könnte.
Es klingelt erneut. Mutter öffnet, und der Taxifahrer erscheint, um das Gepäck zu holen. Mit den Worten «Ich komme sofort» lässt sie ihn vorgehen. Sie schließt die Tür, nimmt aber die Hand nicht von der Klinke.
«Jakob, ich habe nicht erwartet, dass du mich begleitest», sagt sie. «Es war dir schon immer unangenehm, Hilfe von deiner eigenen Familie anzunehmen. Ich vermute, du hast eine dubiose Angst vor emotionaler Abhängigkeit. Aber was weiß ich schon? Ich bin ja nur deine Mutter und war außerdem fast vierzig Jahre mit einem der wichtigsten Psychologen des letzten Jahrhunderts verheiratet.»
Ich nutze ihre Atempause, um meine letzte Munition abzufeuern: «Glaub mir, Mutter! Jonas hat wirklich große Schwierigkeiten. Er musste untertauchen. Deshalb ist er nicht in Miami.»
Sie hört mir überhaupt nicht zu. «Aber du sollst wissen, dass ich das akzeptiere. Ich fände es zwar schön, wenn wir Weihnachten zu dritt verbringen könnten, aber die Dinge sind nun mal nicht immer so, wie man sich das vielleicht wünscht.»
«Jonas hat die Bank um viel Geld betrogen», fahre ich fort.
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