Sie pfeffert meinen Pass auf den Tisch und baut sich vor mir auf. «Sie sind nicht Jonas Jakobi. Sondern sein Bruder Jakob.»
«Sie sollten bei der Polizei anfangen», erwidere ich. «Ich glaube, Sie haben einen ausgeprägten detektivischen Spürsinn.»
«Hey! Ein Witzbold!», ruft sie theatralisch und lässt sich auf den Stuhl fallen. Das Möbelstück ächzt unter der Last ihres Körpers. «Keine Sorge. Ihnen wird das Lachen hier ganz schnell vergehen. Das verspreche ich Ihnen.»
Zwei Stunden später ist mir das Lachen immer noch nicht vergangen. Ich weiß inzwischen, dass mein Bruder mit seinen Spekulationsgeschäften die märchenhafte Summe von drei Milliarden Euro verzockt hat. Damit gehört er zu den Topkriminellen des Casinokapitalismus, weshalb damit zu rechnen ist, dass er nach einer moderaten Haftzeit von vier bis sechs Jahren mit Büchern, Filmen und Vortragsreisen eine Menge Geld verdienen wird. Es wäre sogar denkbar, dass ihm Letzteres gelingt, ohne zuvor in den Knast zu wandern, wenn er es heute schafft, Hauptkommissarin Chewbacca zu entwischen. Kuba liefert gewöhnlich nicht aus, und falls Jonas clever genug war, wenigstens ein paar Hunderttausend Euro von dem vielen Geld für sich selbst abzuzwacken, dann dürfte es locker für einen Neustart in der Karibik reichen. Ich gönne es ihm. Und ich werde mein Bestes tun, ihm die Flucht zu ermöglichen. Irgendwie ist mir ein Betrüger als Bruder fast lieber, als es jener Musterknabe war, den Jonas uns immer vorgespielt hat.
Die vergangenen zwei Stunden sind auch an der Kommissarin nicht spurlos vorübergegangen. Sie lässt zum wiederholten Male neuen Kaffee kommen, während sie sich mit den Fingerspitzen die Schläfen massiert.
«Sie sollten sich eine Weile hinlegen», sage ich. «Sie sehen müde aus.»
Sie hält inne und blickt mich verächtlich an. «Ich weiß, dass Ihr Bruder Europa noch nicht verlassen hat. So was habe ich im Gefühl. Und ich weiß auch, dass Sie mir sagen können, welchen Flug er gebucht hat.»
«Wer sagt überhaupt, dass er fliegen will?», antworte ich.
«Will er denn?», fragt sie lauernd.
Ich lächle nachsichtig. «Ich plaudere hier mit Ihnen aus lauter Freundlichkeit», sage ich und fahre mit gespielter Strenge fort: «Wenn Sie mir ständig blöd kommen, dann verweigere ich die Aussage. Rechtlich gesehen darf ich das. Es handelt sich ja schließlich um meinen Bruder.»
Sie beugt sich vor. «Glauben Sie wirklich, dass Sie so einfach davonkommen würden? Ich krieg Sie dran wegen Beihilfe.»
Es klopft. Ein älterer Mann in Zivil steckt den Kopf durch die Tür. «Jutta, kannst du mal bitte kommen? Wir haben da was.»
Kroll überlegt einen Moment, dann sagt sie: «Nur zu. Wir haben schließlich vor Herrn Dr. Jakobi nichts zu verbergen.»
Der Beamte tritt ein. Ich ahne nichts Gutes.
«Wir haben das Passwort für den Computer von Jonas Jakobi geknackt. Er wollte eine Bahnreise buchen für heute Nacht, hat die Buchung aber abgebrochen.»
«Interessant», sagt Kroll. «Wo sollte es denn hingehen?»
«Paris. Flughafen Charles-de-GauIle.»
Die Kommissarin mustert mich. «Stimmt das mit Ihren Informationen überein, Dr. Jakobi?»
Ich blicke instinktiv zur Uhr. Kurz vor fünf. Noch eineinhalb Stunden bis zu Jonas’ Abflug. Kann also nicht schaden, wenn die Soko erst mal in Paris nach ihm sucht. Kroll folgt meinem Blick und scheint zufrieden mit der Reaktion.
«Wir überprüfen alle Flüge nach Übersee, die in den kommenden drei Stunden starten», ordnet sie an, schnappt sich ihre Tasse und ist im nächsten Moment mit dem Kollegen durch die Tür verschwunden.
Ich kann mir ein müdes, aber zufriedenes Grinsen nicht verkneifen. Mein Bruder hat doch tatsächlich die großartige Idee gehabt, eine falsche Fährte zu legen. Eigentlich sollte man von einem Topbetrüger nichts anderes erwarten, aber ich bin dennoch beeindruckt. Fragt sich jetzt nur, ob seine Finte die Polizei lange genug beschäftigt.
Leider bringt uns der Umweg über Paris nur eine knappe halbe Stunde, dann sitzt Hauptkommissarin Kroll schon wieder vor meinem Tisch. Ihre Kollegen haben die Passagierlisten in Paris überprüft und nichts gefunden. Auch der Computerabgleich des Fahndungsfotos mit den Bildern der Überwachungskameras hat ergeben, dass Jonas in den letzten zwölf Stunden den Flughafen Charles-de-Gaulle nicht betreten hat.
Daraus schließt die Kommissarin messerscharf, dass sie von Jonas reingelegt worden ist. Und sie hat noch eine Theorie: Wenn man links antäuscht, dann will man wahrscheinlich in die rechte Ecke schießen. Kroll glaubt deshalb, dass Jonas Paris als Köder ausgelegt hat, weil er sich in die entgegengesetzte Richtung vom Acker machen will. Also liegt der gesuchte Flughafen ihrer Überzeugung nach in Osteuropa. Von Berlin aus gesehen kommen da ihrer Meinung nach nicht allzu viele große Flughäfen in Betracht. Fragt sich nur, ob Jonas vielleicht einen kleineren Flughafen angesteuert hat und/oder ob er vielleicht mit falschen Papieren reist.
Die Details beiseitegelassen, kommt die Kommissarin mit ihren Vermutungen der Wahrheit bedenklich nahe. Mir wird mulmig zumute.
Es klopft, dann öffnet sich die Tür. Ich erstarre. Der Besucher ist Abel Baumann. Er trägt einen gutsitzenden, offenbar teuren Anzug und hat einen schwarzen Diplomatenkoffer dabei.
«Wer sind Sie?», fragt Kroll brüsk. «Und was machen Sie hier?»
Abel zieht eine Visitenkarte aus der Brusttasche seines edlen Sakkos und reicht ihr das Stück Papier. «Ich möchte bitte mit meinem Mandanten alleine sprechen.»
Die Kommissarin nimmt die Karte und nickt wenig begeistert. Dann verlässt sie den Raum mit den Worten: «Zehn Minuten. Und erklären Sie ihm, wie ernst die Lage ist.»
Kaum ist die Tür geschlossen, da legt Abel seinen Zeigefinger an die Lippen und bedeutet mir, mich zu setzen. Er zieht einen Zettel hervor und schiebt ihn über den Tisch. Ich lese: Die hören mit. Also sei vorsichtig, was du jetzt erzählst!
Während ich den Zettel studiere, sagt Abel betont entspannt: «Schön, Jakob. Freut mich, dich zu sehen. Dann wären wir ja jetzt unter uns.»
Ich nicke und erwidere: «Gut, dass du da bist. Die löchern mich schon seit Stunden. Ich weiß gar nicht, was die von mir wollen, es geht doch hier nicht um mich, sondern um meinen Bruder.»
Abel nickt zufrieden und bedeutet mir mit einem Zwinkern, dass wir auf dem richtigen Weg sind. «Das schon, aber die glauben natürlich, dass du weißt, wohin er sich absetzen will.»
«Das weiß ich ja auch», erwidere ich. «Aber das muss ich denen ja nicht auf die Nase binden, oder?»
«Nein. Es könnte dir zwar Scherereien ersparen und sich für deinen Bruder strafmildernd auswirken, aber es ist dein gutes Recht, die Klappe zu halten. Außerdem müsste ich sowieso vorher mit denen reden, falls du ...»
«Nein. Ich will Jonas nicht verpfeifen», unterbreche ich und schaue zur Uhr. Viertel vor fünf. Wenn die Polizei noch mal eine halbe Stunde Zeit verliert, dann ist Jonas so gut wie weg.
«Kann ich verstehen», erwidert Abel. «Dann verweigerst du ab jetzt bitte einfach die Aussage, und ich beeile mich, dich hier so schnell wie möglich rauszuholen.» Er steht auf.
«Warte mal. Was wird denn juristisch aller Wahrscheinlichkeit nach auf mich zukommen?», frage ich und kritzele nebenbei auf Abels Zettel: Wir brauchen noch eine halbe Stunde.
Abel nimmt das Stück Papier, nickt und legt es sorgfältig in seinen Diplomatenkoffer. «Das kann ich dir nicht so genau sagen, Jakob. Die Angelegenheit hat ja auch eine politische Dimension. Diese Hauptkommissarin Kroll wird sicher nicht gut auf dich zu sprechen sein, wenn du ihren Fahndungserfolg zunichtemachst. Im Zweifelsfall wird sie versuchen, dich wegen Beihilfe dranzukriegen, vermute ich.»
«Ja. Das hat sie schon gesagt», merke ich an.
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