«Das sagen die immer», erwidert Abel. «Heißt aber noch lange nicht, dass sie damit auch durchkommen.»
Ich schaue auf die Uhr. Abel folgt meinem Blick.
«Wenn du willst, dann verhandele ich mit ihnen.» Vielsagend fügt er hinzu: «Könnte aber eine Viertelstunde dauern. Vielleicht sogar länger.»
Ich nicke. «Gut. Fragen kostet ja nichts.»
Abel braucht leider keine zehn Minuten, um von der Kommissarin garantiert zu bekommen, dass ich straffrei ausgehe, wenn ich plaudere.
Es ist kurz vor sechs, als ich vorgebe, zähneknirschend meinen Bruder zu verraten: «Jonas wollte wirklich nach Paris. Aber nicht, um von dort aus zu fliegen. Er hat in Paris den Zug nach Marseille genommen. Er will sich mit einem Schiff nach Nordafrika absetzen.»
Kroll wirkt genervt. «Nordafrika ist groß. Wo genau will er denn da hin?»
«Keine Ahnung», erwidere ich. «Er klang nicht sehr wählerisch.»
«Und könnte es obendrein sein, dass er irgendwo als blinder Passagier an Bord geht und die Passage cash bezahlt?», fragt Kroll schnippisch. «Auf diese Weise wäre er dann auch auf keiner Passagierliste zu finden.»
«Was weiß denn ich?», gebe ich unwirsch zu Protokoll. «Ja. Möglich.»
Der Blick der Kommissarin durchbohrt mich. «Wenn Sie mir hier Mist erzählen, dann buchte ich Sie für lange Zeit ein. Das schwöre ich Ihnen.»
Ich zeige mein schönstes Pokerface.
«Wann wollte er denn weg?», will Kroll wissen.
«Ich denke mal, heute Morgen.»
Sie merkt, dass es keinen Sinn hat, mich noch länger auszuquetschen, und wendet sich ab mit den Worten: «Wir müssen sämtliche Schiffe, die heute Morgen in Marseille mit Ziel Nordafrika ablegen, filzen.»
«Aber das ist Wahnsinn», höre ich einen ihrer Kollegen sagen, bevor sich die Tür schließt.
Abel sieht mich an und nickt fast unmerklich. Es ist ein anerkennendes Nicken. «Ich versuche uns noch mal einen frischen Kaffee zu besorgen», sagt er aufgeräumt.
Zehn Minuten später sitzen wir entspannt beisammen und warten darauf, dass Kroll zwar Jonas in Marseille nicht findet, mich aber trotzdem laufen lassen muss, weil sie mir nicht beweisen kann, dass ich sie angelogen habe. Zu diesem Zeitpunkt sind es nur noch sieben Minuten, bis mein Bruder über alle Berge ist.
Plötzlich fliegt die Tür auf. Kroll und ein Kollege, das Handy am Ohr, stürmen ins Zimmer. Vor Schreck verschütte ich meinen Kaffee.
«Wir wissen, dass es Prag ist. Und wir wissen, dass er falsche Papiere hat», bellt sie. «Eine Überwachungskamera hat ihn heute Morgen gefilmt, aber er taucht auf keiner Passagierliste auf. Unter welchem Namen reist er?»
Da ich wirklich keine Ahnung habe, zucke ich mit den Schultern.
«Dann sagen Sie mir jetzt, welche Maschine es ist.»
Sie sieht mein bestürztes Gesicht und wiederholt: «Welche Maschine?»
Sie beugt sich über den Schreibtisch und schiebt dabei Abels Koffer zur Seite, der zwar herunterfällt, aber von Abel geistesgegenwärtig aufgefangen wird. Da der Koffer nicht verschlossen war, fallen zwei Kugelschreiber und ein kleines Blatt Papier heraus. Es segelt zu Boden. Bevor Abel es einsammeln kann, ist für einen kurzen Moment meine Notiz von vorhin zu sehen: Wir brauchen noch eine halbe Stunde.
Kroll starrt auf den Zettel, dann sieht sie mich an. Ein ebenso triumphierender wie hasserfüllter Blick. Ich muss schlucken. Sie schaut zur Uhr, dann zu Abel. Dann schließt sie die Augen und rechnet fieberhaft.
«Es ist eine Maschine, die in den nächsten zehn Minuten abhebt», sagt sie zu ihrem Kollegen, der nun leise in sein Handy spricht.
«Der Kollege in Prag sagt, dass zwei Maschinen auf der Startbahn stehen, die beide passen könnten. Eine nach Mexiko, eine nach Kuba. Sechs Uhr zwanzig, und drei Minuten später.»
«Sie sollen beide Maschinen aufhalten», ordnet Kroll an. Sie sieht mir dabei direkt in die Augen. Ich weiß nicht, ob sie erkennen kann, wie bitter mir diese Niederlage schmeckt. Zwei Minuten hätten wir noch gebraucht, vielleicht drei. Mehr nicht. Drei verdammte Minuten.
Krolls Kollege nimmt das Handy vom Ohr. «Der Kollege in Prag sagt, er stoppt die Maschinen nicht auf gut Glück. Sie sollen den betreffende Flug nennen, sonst kriegen beide Maschinen Starterlaubnis.»
Ich spüre Hoffnung in mir aufkeimen. Kroll sieht mir immer noch in die Augen. «Mexiko oder Kuba?», fragt sie drohend.
Ich blicke zu Abel, der mir aufmunternd zunickt. Schön, dass er mir vertraut, aber gerade geht mir der Arsch mächtig auf Grundeis.
«Mexiko oder Kuba», wiederholt Kroll nachdrücklich.
«Du musst jetzt auf dein Bauchgefühl hören.» Ich schaue ihn an und weiß gerade nicht, ob er das wirklich gesagt hat. Ich habe jedenfalls nicht gesehen, dass sich seine Lippen bewegt haben.
Ich blicke der Kommissarin in die Augen und versuche zu ergründen, was in ihr vorgeht. Ich muss auf mein Bauchgefühl hören, denke ich. Sekunden, die mir wie Minuten vorkommen, dann lese ich in ihrem Gesicht das Wort: Lüge. Und im gleichen Moment weiß ich, was zu tun ist.
«Kuba», sage ich mit fester Stimme.
«Geht doch.» Sie nickt erfreut, wendet sich an ihren Kollegen, der gerade in sein Handy sprechen will, und stoppt ihn mit einer energischen Handbewegung.
«Mexiko», sagt sie. «Es ist die Maschine nach Mexiko.»
Der Beamte schaut sie irritiert an. «Aber er hat doch gerade gesagt ...»
«Stoppen Sie den Flug nach Mexiko», unterbricht sie barsch. «Ich weiß, was ich tue. Die Maschine nach Kuba kann starten.»
Sie würdigt mich keines weiteren Blickes. Hocherhobenen Hauptes verlässt sie das Zimmer. Der Beamte mit dem Handy folgt ihr schulterzuckend und gibt ihre Order an den Prager Kollegen weiter.
Abel macht ein zufriedenes Gesicht.
Ein paar Minuten später, wir haben uns bereits auf einen baldigen Aufbruch eingestellt, erscheint erneut die Kommissarin. Wieder fliegt die Tür auf, diesmal sieht Kroll aus, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen. «Das zahle ich Ihnen heim. Ich bringe Sie hinter Gitter, das garantiere ich Ihnen», stößt sie mit hochrotem Kopf hervor. «Ihr sauberer Bruder ist über alle Berge. Sie haben es also geschafft!
Gratuliere!»
«Und wofür wollen Sie meinen Mandanten einsperren?», fragt Abel betont entspannt. «Dafür, dass er Ihnen die Wahrheit gesagt hat? In Anwesenheit mehrerer Zeugen? Ich an Ihrer Stelle würde das nicht an die große Glocke hängen.»
Kroll schnaubt verächtlich. Auch ihr ist klar, dass sie das Spiel verloren hat. Sie schießt einen letzten, hasserfüllten Blick ab und verschwindet.
Einen Moment herrscht Schweigen, dann atme ich tief durch.
«Alles okay?», fragt Abel besorgt.
«Danke. Alles bestens», sage ich müde, aber glücklich. «Lass uns abhauen.» «Vielleicht nimmst du erst mal die Dinger aus der Nase», erwidert Abel.
Der Winter hat die Stadt fest im Griff. Der Verkehr kriecht. Auf den eisglatten Bürgersteigen versuchen dick eingemummte Menschen, heil durchs Gewimmel zu kommen. Es wäre ein ganz gewöhnlicher Morgen an einem ganz gewöhnlichen ungemütlichen Dezembertag, wenn nicht Weihnachten unmittelbar bevorstünde. Der Gedanke daran, dass die Menschen heute Abend das Fest der Liebe zelebrieren werden, scheint die Welt zumindest ein paar frostige Atemzüge lang zu einem besseren Ort zu machen. Daran ändert auch nichts, dass unterm Tannenbaum nicht nur geherzt und geküsst, sondern auch gestritten und geprügelt wird. Es ist der Gedanke, der zählt. Und vielleicht ist das auch schon das ganze Geheimnis.
Diesmal scheint Abel tatsächlich meine Gedanken lesen zu können. «Falls du heute Abend nicht weißt, wohin, dann melde dich einfach. Mein Bauwagen ist dein Bauwagen.»
«Danke. Aber ich muss mich um Mutter kümmern. Wird nicht leicht, ihr klarzumachen, dass Jonas heute nicht dabei sein kann.»
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