Es war Nachmittag, die Sonne sank allmählich den Hügeln fern im Westen entgegen. Sonja schlug nach den lästigen Fliegen und Mücken und sagte: »Ich rede zuviel. Ich bin müde und hungrig, deshalb kommt mir alles düster vor.«
Daron hing seinen eigenen Gedanken nach. Er schwieg und war so ruhig, dass es Sonja auffiel. Sie musterte ihn aus den Augenwinkeln und bemerkte, dass der arglose junge Mann verschwunden war und dass, in eine dunkle Wolke des Grübelns eingehüllt, ein harter Beobachter des Lebens, ein Träger tiefer Geheimnisse neben ihr ritt.
»Sie haben dem Land etwas angetan, nicht wahr?« Er stellte es als Frage – doch nicht aus Ungewissheit, das spürte Sonja, sondern weil er es laut dachte.
»Haben sie das, Daron?«
Er drehte sich im Sattel, blickte zurück auf die Zikkurat, auf die Steppe, auf die vereinzelten Steinhütten und auf die drei Krieger, die, in ein Gespräch vertieft, hinter ihnen ritten. »Sie haben etwas mit dem Land getan. Es ist mit einem kaum spürbaren Zauber belegt.«
»Meinst du die Tempelpriester?« fragte Sonja. »Aber was?«
Er schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Etwas … Um die Pflanzen zu beeinflussen? Oder den Verstand der Soldaten?«
Schweigend ritten sie weiter, schließlich kamen sie zu der breiten Brücke, die vor Jahren errichtet worden war. Es war Sommer, der Fluss seicht, und an den Brückenstützen haftete getrockneter Schlamm mit Wespennestern und kriechenden Käfern. Ein Frosch oder Fisch platschte im Wasser, als ihre Pferdehufe die Holzplanken berührten.
Von der höchsten Stelle der Brücke aus sahen sie die ganze Weite des Dorfes vor sich – immer noch von allen Dorf genannt, obgleich es nun wahrhaftig groß genug für eine Stadt und mit Holz und Stein befestigt war. Die Abendbrise brachte Kochgerüche mit sich; es duftete nach Rinderbraten, gedünstetem Fisch und Gemüse. Sonjas Magen knurrte laut.
»Mitra!« stöhnte sie und rutschte im Sattel. »Habe ich Hunger! Und müde bin ich!«
Sie näherten sich dem Dorf, und man öffnete ihnen das Tor in der dicken Befestigungsmauer. Als Sonja an dem Trupp Soldaten im Hof dahinter vorbeiritt, hielt ihr Offizier sie auf. »Bo-ugan möchte mit Euch sprechen.«
»Kann ich zuvor baden und etwas essen?«
»Ich glaube, er möchte Euch sofort sehen. Mein Befehl lautet: sobald Ihr zurückkommt!«
Sonja seufzte, saß ab und streckte die langen Beine. »Bis später«, sagte sie zu Daran, dann folgte sie dem Offizier.
»Bis später«, verabschiedete sich Daron und blickte zu dem dunkler werdenden Himmel auf.
Bo-ugan war bei sich zu Hause und saß am Tisch mit ein paar jungen Kriegern und dem Ältesten Agthor – von Bo-ugan selbst abgesehen der einzige Hetman, der aus den Tagen der fünf Dörfer überlebt hatte. Bo-ugan lud Sonja ein, sich ihm gegenüber niederzusetzen. Eine große Platte mit dampfendem Geflügel und eine Kanne Wein standen auf dem Tisch.
»Bedient Euch, Rote Sonja!« forderte Bo-ugan sie auf.
Sie nickte dankend und griff zu, erfreut über die Ungezwungenheit.
Zehn Jahre Krieg, Anspannung und Befehl über die wachsende Dorfarmee hatten Bo-ugan – einst ein hitzköpfiger, unbeschwerter Mann mittleren Alters – zum selbstbeherrschten, überlegenen alten Krieger gemacht. Sein langes weißes Haar, ungestutzt seit jenem Tag, da er seine Männer zum ersten Mal über den Fluss zur Zikkurat geführt hatte, war zu Zöpfen geflochten und im Nacken zusammengehalten. Bart und Schnurrbart waren frisch gestutzt. Die tiefen Runzeln um die Augen und in den Wangen stammten mehr vom vielen Denken denn vom Alter. Ausdruck, Haltung, die ganze Art zeichneten ihn als Führer aus, aber als einen Mann, dessen Leben vermutlich unbemerkt und ohne Anerkennung verlaufen wäre, hätten die Ereignisse ihn nicht plötzlich an die Spitze gedrängt. Die Unüberlegtheit und Hitzköpfigkeit seiner Jugend und seines mittleren Alters gehörten der Vergangenheit an.
Während Sonja aß und trank, musterte sie sein scharfer, abschätzender Blick. Er gestattete ihr, ihren Hunger zu stillen und einen Becher des süßen Rotweins zu trinken, ehe er sich an sie wandte.
»Ich werde Euch nicht lange aufhalten«, versicherte er ihr mit seiner tiefen, schwermütig klingenden Stimme. »Ich weiß, dass Ihr erschöpft seid und Euch gewiss nach einem Bad und Schlaf sehnt. Doch da ich einiges über Euch hörte, seit Ihr hier ankamt, Rote Sonja, halte ich es für angebracht, Eure Meinung über manches zu hören, was die Belagerung betrifft.«
»Und was habt Ihr über mich erfahren?«
Seine Worte und seine Handlung waren beherrscht und entschlossen.
»Nun, man erzählt, dass Ihr mit Eurem Schwert unübertrefflich seid und in vielen Schlachten mitgekämpft habt.«
»Ich bin noch nicht sehr lange hier«, sagte Sonja und erwiderte Bo-ugans festen Blick. »Ich sage Euch, was ich tun kann: Euch meine Meinung wissen lassen, so gut ich sie mir bisher bilden konnte.«
»Denkt über die Belagerung nach!« bat Bo-ugan. »Ihr braucht Euch nicht sofort eine Antwort zu überlegen, vielleicht fällt Euch morgen etwas ein – oder übermorgen. Ihr könnt es mir jederzeit sagen.«
Sonja lehnte sich zurück. Gesättigt fühlte sie sich stärker und wacher. Sie wischte sich die Lippen ab und fragte Bo-ugan: »Was genau ist Euer Problem?«
»Seit zehn Jahren zieht die Belagerung sich unablässig dahin«, antwortete er. »Nach den Angriffen im ersten Jahr wurde mir klar, dass sich die Zauberer im Tempel zurückgezogen hatten, dass sie ihre Verteidigungen im Innern aufstellten und darum kämpfen würden, sie zu halten, doch ansonsten genügte es ihnen zuzusehen, wie wir uns selbst schwächten. Also entwickelte ich Strategien, meine Männer mit geringstmöglichen Verlusten einzusetzen. Hin und wieder warb ich sogar Zauberer und Hellseher an, in der Hoffnung, dass ich durch sie etwas erreichen konnte, was meine Schwerter nicht vermochten. Von ihnen erfuhr ich, dass der Oberste der Zikkurat, also jener, der den Befehl über alle anderen hat, ein Zauberer namens Thotas ist, den man auch als Meister des Ordens der Roten Sonne kennt. Ihr seid weitgereist, Rote Sonja, und habt schon öfter gegen Zauberei gekämpft – habt Ihr irgendwann schon einmal von diesem Mann gehört?«
»Es stimmt, dass ich gegen Zauberei kämpfte – doch von einem Thotas habe ich nie gehört.«
»Die Zauberer, die ich bezahlte, nutzten mir wenig. Ich kenne nun zwar den Namen unseres Gegners, doch das ist alles. Wenn er ein mächtiger Zauberer ist, dürfte wohl anzunehmen sein, dass seine Festung gut geschützt ist. Deshalb auch die Dauer der Belagerung. Das einzige, was ich sonst noch erfuhr, waren Vermutungen über den gefallenen Stern.«
»Dann ist die Sage wahr?«
»Es ist keine Sage. Ich persönlich und einige Männer in diesem Raum sahen, wie er vor zehn Jahren auf den Berg stürzte. Meine angeworbenen Zauberer glauben, es könnte etwas Böses sein, das Thotas und sein Orden von den Göttern erflehte und erhielt. Seine Geheimnisse aufzudecken, hat lange gedauert – wenn Thotas sie überhaupt schon kennt. Natürlich könnte es auch sein, dass der Stern Thotas beherrscht und er, auf eigene Weise, Böses verbreitet. Ich weiß es nicht. Ich vermute, dass er ist, was die Zauberer mir sagten: etwas, das die Götter oder Dämonen schickten. Doch in den zehn Jahren der Belagerung sind mir die Veränderungen in meinem Land nicht entgangen: Die Felder werden allmählich unfruchtbar, sie verdorren; unsere Haustiere, unser Vieh – es stirbt dahin; meine Krieger werden schwächer, und ihre Frauen siechen immer mehr. Schlimmer noch: Viele unserer Kinder werden tot, verkrüppelt oder krank geboren. Ich habe festgestellt, dass das Wasser aus den Quellen und Brunnen in der Nähe des Tempels schädlich ist. Männer, die regelmäßig davon trinken, werden krank und sterben einen langsamen Tod. Ich habe es gesehen. Thotas oder der Stern ist dafür verantwortlich, dessen bin ich sicher. Und ich weiß, dass meine Leute keine zehn weiteren Jahre Belagerung durchstehen.«
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