Bestürzt zog Thotas sich in das hohe Tempelgemach zurück, um zu dem göttlichen Stern zu sprechen. Berückt von ihm, kam er drei Tage nicht heraus.
Als er den Raum endlich verließ, las Matius erschrocken einen neuen Wahnsinn in Thotas’ Augen.
Die Belagerung dauerte Wochen und dehnte sich schließlich zu Monaten. Bo-ugans Männer nahmen Raum um Raum ein, mussten sie wieder aufgeben und eroberten sie zurück, indem sie Muskeln und Stahl gegen Zauberei einsetzten. Der Herbst wich dem Winter. Kälte griff nach den Männern vor der Zikkurat. Um sich dagegen zu wappnen, erbauten sie steinerne Forts. Ein Pfad wurde durch das schneebedeckte Wiesenland getrampelt; auf ihm kamen Verstärkung und Verpflegung. Männer starben und wurden durch andere ersetzt. Verwundete schickte man in die Dörfer zurück, damit sie genasen oder starben. Kinder, die in jenem Winter zur Welt kamen, taufte man mit Flüchen gegen den Feind in der Zikkurat.
Im Frühling verdoppelten Bo-ugan und seine Männer ihre Anstrengungen, und bis zum Sommer hatten sie das halbe untere Zikkuratstockwerk eingenommen. Hin und wieder führte Thotas seine Priester und Jungpriester gegen die Krieger, doch immer häufiger und länger zog er sich in sein Gemach oder den Sterntempel zurück und hörte sich lediglich die Berichte seiner Männer über die Lage an. Einmal, im Frühling, hatten einige seiner törichteren Zauberer einen Ausfall gewagt, um gegen die Belagerer zu kämpfen; aber sie waren alle niedergemacht worden, denn ohne den Schutz ihrer Kameraden und ohne die Macht der Zikkurat waren sie zu schwach.
Mit dem Frühling kamen auch Abenteurer und Söldner, die von der anhaltenden Belagerung und den Gerüchten über sagenhaften Reichtum in der Stufenpyramide gehört hatten. Sie unterstellten sich Bo-ugan und kämpften in Erwartung der Schätze gegen die Zauberer. Die Dörfer, die eineinhalb Meilen am Fluss verstreut gelegen hatten, wuchsen zu einer großen lang gestreckten Stadt zusammen. Hütten und Festungen wurden als Verbindung errichtet, und die Leute, die weiter außerhalb gewohnt hatten, zogen herbei, um Heim und Essen mit denen von Bo-ugans Dorf zu teilen.
Der ursprüngliche Grund für den Krieg war schon ein Jahr nach seinem Ausbruch vergessen. Der Stern vom Himmel? Wer wusste schon, was er bedeutete? Nun kämpfte Joris, weil sein Bruder Koloti in der Zikkurat getötet worden war; Thaum, weil er wusste, dass die Zauberer Reichtümer gehortet hatten; und Ivarm machte mit, weil er daran glaubte, dass Bo-ugan, ein Held war, den die Götter auserkoren hatten, das Böse zu besiegen. So wurde der Krieg nun aus den unterschiedlichsten Gründen geführt.
Im zweiten Winter befehligte Bo-ugan bereits eine kleine Armee. Jüngere Söhne, die mehr vom Kampf als von der Landwirtschaft verstanden, folgten ihren Vätern und älteren Brüdern über die Steppe, um mit Feuerpfeilen und Schwertern gegen die dämonischen Männer vorzugehen. Im zweiten Frühjahr verschafften Bo-ugan und seine Männer sich Zugang zum ersten Stock der Stufenpyramide. Doch auch die Priester in dem riesigen Tempel lernten nun zusätzlich zur Zauberei das Kämpfen.
Gegen Ende des zweiten Belagerungsjahrs war der Krieg zu einer Lebensweise geworden. Bo-ugans kleines Dorf und die anderen Dörfer rundum waren zu einer befestigten Stadt zusammengewachsen. Frauen und Mädchen stapften durch Felder und Wiesen, um ihre Männer und Liebsten in den Befestigungsanlagen auf der Steppe und sogar dicht an der Zikkurat zu besuchen. Ja, einige dieser Frauen lernten selbst mit dem Schwert umzugehen und griffen zu den Waffen gegen die Tempelpriester. Mehr und mehr Söldnertrupps schlossen sich der wachsenden Armee an. Fische, Früchte, Gemüse und Getreide, um die sich Frauen sowie junge Mädchen und Knaben kümmerten, wurden flußab gegen Eisen und Waffen getauscht. Selbst ein paar Zauberer wurden angeworben, um an Bo-ugans Seite zu kämpfen. Doch ihre Magie bewirkte wenig gegen die gewaltigen Zauberkräfte der Zikkuratbewohner und Priester des Ordens der Roten Sonne.
Ein weiterer Winter machte dem Frühling Platz, und ein weiterer Sommer und Herbst wiederum wichen dem neuen Winter. Kinder, die um die Zeit der ersten Schlacht gezeugt worden waren, wuchsen mit Geschichten von Krieg und Waffenkunst auf. Die Hoffnung auf Gold und Rache trieb die Armee an, und der Tod stärkte die Entschlossenheit der Überlebenden. Ein ruhmvolles, herrliches Leben in der Welt nach dem Tod wurde jenen versprochen, die als Helden fielen.
Einige behaupteten, Wahnsinn in dem Ganzen zu sehen, und dass der gefallene Stern das Land verflucht habe. Sie verließen die Gegend. Doch die meisten fanden den Krieg notwendig und als das Wichtigste. Sie blieben und kämpften – und so manche von ihnen fielen.
Weitere Winter zogen über das Land. Die Stadt am Fluss wuchs. Ernteerzeugnisse wurden flußab und Waffen flussauf geschickt.
Zehn Jahre zog sich der Kampf um die Zikkurat dahin: eine Einladung für alle mit einem Schwert und einem hungrigen Bauch …
1
Die Männer der Zikkurat
Sonja machte vorsichtig ein paar Schritte vorwärts, dann blieb sie wieder stehen. Ein Dutzend Soldaten tat es ihr gleich. Der Schein der Fackeln brachte Sonjas rotes Haar zum Schimmern. Sie zog ihr Schwert, winkte mit dem freien Arm und bedeutete den Männern heranzukommen.
»Daron!« flüsterte sie.
Ein junger dunkelhaariger Krieger blieb dicht neben ihr stehen. Wortlos forderte sie ihn auf, seine Fackel vorzustrecken, damit sie und die anderen besser sehen konnten.
Das flackernde orangefarbene Licht zeigte ihnen lediglich einen leeren Korridor, zumindest soweit der Schein leuchtete. Aber Sonja bemerkte einen aufrechten Schatten an der rechten Wand.
»Eine Ecke«, flüsterte sie Daron zu.
Es war still in dem Gang. Sonja und Daron sowie die Männer hinter ihnen verharrten stumm. Sie waren weiter gekommen als Bo-ugans Männer am gestrigen Tag, und das machte Sonja doppelt misstrauisch.
»Leuchte dorthin!« wisperte sie Daron zu. »Etwas sagt mir …«
Bevor sie zu Ende gesprochen hatte, war Daron schon vorsichtig weitergegangen, die Hand mit der Fackel hoch erhoben, die andere um den Griff seines in der Scheide steckenden Schwertes. Das Licht flackerte über Ziegelwand und Lehmboden und verriet ein paar verschwommene Einzelheiten hinter jener Ecke …
»Vorwärts!« brüllte Sonja plötzlich. Sie schob Daron zur Seite, als sie losstürzte.
Etwas taumelte hinter der Ecke hervor – groß und breit kam es aus den dunklen Schatten. Es hob die Arme, torkelte vorwärts und öffnete schlaff die Kiefer, als stieße es einen stummen Schrei hervor. Die glasigen Augen brannten gelb durch zauberübertragene Kraft. Es war ein belebter Toter – einer der gestern Gefallenen …
Das Rasseln von Schwertern, die aus ihren Hüllen gezogen wurden, erklang hinter Sonja – die Männer warteten ungeduldig auf ihren Einsatz. Mit der geschmeidigen Leichtigkeit der geborenen Schwertkämpferin hob die rothaarige Hyrkanierin ihre Klinge, um den Untoten aufzuhalten. Ihr Schwert drang ihm in die Brust.
Ihr Streich brachte die wandelnde Leiche aus dem Gleichgewicht. Mit erhobenen Armen›gekrümmtem Rücken und dem Kopf prallte die Gestalt gegen die Wand. Sonja riss die Klinge zurück.
»Die Fackel, Daron!« rief sie. »Zünde den Toten an!«
Wieder hatte er ihren Befehl vorhergesehen. Er warf die Fackel gegen den Untoten und zog seine Klinge aus der Scheide. Die Leiche, die sich schwerfällig von der Wand gestoßen hatte, taumelte unter dem Aufprall. Die harzige Fackel klebte ihr an Haut und Kleidung, und die Flamme breitete sich schnell in züngelndem roten Feuer aus. Ohne einen Schrei herauszukriegen, wandte sie sich von der Wand ab, und gelenkt vom Zauber jener, die sie belebt hatten, versuchte sie sich auf den Trupp Krieger zu werfen, der den Korridor blockierte.
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