»Lange, so lange haben wir auf dich gewartet«, murmelte er. »Und nun bist du von den finsteren Göttern zu mir gekommen. Du wirst mir große Macht bringen.«
Er trat näher heran, verzückt von dem unheimlichen Glühen des Sterns. Schweiß brach ihm von der Stirn. Die Hände zitterten ihm, während er einen Schritt vorwärts tat, dann einen zweiten, bis er schließlich stehen blieb, um den Stein zu bewundern.
»Macht von den finsteren Göttern!« wisperte Thotas. »Und bald wird alles mir gehören, alles!«
Der Stern erbebte.
Thotas keuchte erschrocken. Nun ließ der einfallende Sonnenschein den Stein greller aufleuchten. Und dann, erzitternd mit dem Licht, sprach der Stein:
»Tor. Mit deinem irdischen Zauber hältst du mich jetzt gefangen, doch ich bedeute deinen Tod. Nicht freiwillig verleihe ich dir Macht. Ich bringe dir den Tod.«
Thotas schrie auf und taumelte rückwärts. Er prallte gegen die Wand und stützte sich mit den Armen dagegen. Bestürzt weiteten sich seine Augen, er riss unwillkürlich den Mund auf, und das Leuchten des Steines blendete ihn schier.
Der Stern hörte zu zittern auf und verlor ein wenig an Leuchtkraft. Thotas rannte auf ihn zu, legte beide Hände um ihn und schrie ihn an:
»Sprich wieder! Sprich wieder!«
Er erhielt keine Antwort. Heftig stieß der Zauberer den Stein, dann zog er an ihm und verlangte immer wieder: »Sprich doch! Sprich doch wieder!«
An der Tür pochte es. Die wartenden Akoluthen hatten das aufgeregte Schreien ihres Meisters gehört.
»Sprich wieder!« krächzte Thotas. Er hielt den Stein fest und spürte Wärme die Hände hinauf in Herz und Gehirn strömen. »Sprich – wieder …«
Ohne die Hände vom Stein zu nehmen, sackte er, gegen den Altar gelehnt, zu Boden, während die Stimmen hinter der verschlossenen Tür, um seine Sicherheit besorgt, nach ihm riefen.
Sechs Tage lang war es ruhig in der Steppe. Im Morgengrauen des siebten Tages nach dem vergeblichen Sturm auf die Zikkurat schafften Bo-ugan, die anderen Hetmane und ihre Krieger schwere Ausrüstung über den Fluss: Sturmleitern, Widder, einfache Belagerungstürme und Katapulte. Sie hatten sechs Tage damit verbracht, das Belagerungsgerät herzustellen. Einen halben Tag benötigten sie nun dazu, es über den Fluss und die Wiesen zu transportieren. Gegen Mittag war das kleine Heer zum Angriff auf die Zikkurat bereit.
Bo-ugan hatte alles gut durchdacht und erkannt, dass ein Angriff von einer Seite seine Leute zu großer Gefahr aussetzen würde. So hatte er in der sechsten Nacht, vor dem Morgengrauen, zwei große Trupps ausgeschickt, um in einem weiten Bogen, einer nach links, der andere nach rechts, zu dem Berg hinter der Zikkurat vorzustoßen und ihn zu erklimmen. Von dort aus wollten sie beobachten, wie der Angriff von der Steppe aus verlief, und eingreifen, sobald die Aufmerksamkeit der Tempelleute auf das Heer in den Wiesen gerichtet war.
Die Priester in der Zikkurat hatten den Anmarsch im Tagesucht von geschützter Höhe aus beobachtet und schüttelten die Köpfe angesichts dieser Narren. Sie hatten Thotas davon unterrichtet, und auch er war an ein Fenster getreten, um sich die Horde anzusehen.
»Ja, Narren, wahrhaftig!« brummte er.
Dann zog er sich in den hohen Tempel zurück, wie jeden Tag, seit man diesen Stein gebracht hatte. Im Tempelraum hatte sich seither einiges geändert. Thotas hatte magische Kreise um den Altar gezeichnet, Öllampen angezündet und Zauber gezogen, so dass der Stein sicher in einem Feld von Erdmagie gefangen war. Danach hatte er mit Hilfe von Matius, seinem ältesten und stärksten Priester, den mächtigsten Zauber gewirkt, um festzustellen, ob er imstande war, den Stern nach seinem Willen zu lenken.
Während Matius in einer Ecke des Tempelraums saß und mit dramatischen Gesten eine Räucherschale schwenkte, konzentrierte sich Thotas reglos auf den Stern. Bald spürte er, wie ein großes Machtgefühl ihn durchströmte.
Als die ersten, Steine von den Katapulten der Angreifer gegen die Steinwände der Zikkurat prallten und das Kampfgebrüll der Krieger die Luft zerriss, verließ Thotas den hohen Raum und machte sich daran, gegen die Feinde vorzugehen.
In der Schlacht an diesem Tag siegte zunächst Zauberei über rohe Kraft und einfache Waffen; Bo-ugans Männer legten Leitern an die Wände. Leitern und Männer wurden zurückgestoßen und von den Feuerkristallen zu Asche verbrannt. Gleichzeitig fanden allerdings so mancher Pfeil und von Katapulten geschleuderte Stein ihr Ziel unter jenen, die die Stufen der Zikkurat bemannten, und viele Blaugewandete fielen.
Dann eilten die beiden Kompanien, die Bo-ugan den Berg hinaufgeschickt hatte, so heimlich wie möglich die Felswand zur Zikkurat hinab. Rasch gelangten hundert Mann auf die unbewachten oberen Stufen – unbewacht deshalb, weil keiner in der Zikkurat auch nur auf den Gedanken gekommen war, dass ein Angriff von oben erfolgen könne. Man erklomm die hohen Wehrgänge, brach Türen auf, drang in die obersten Räume ein. Völlig überraschte Priester fielen unter Schwertern, Dolchen und Prügeln.
Die Bewohner der Zikkurat erkannten schnell, was vorging, und wandten die Aufmerksamkeit dem Kampf an der zweiten Front zu. Zum ersten Mal in seiner bekannten Geschichte tobte Kampf im Tempel der Roten Sonne.
Unter dem Befehl eines jungen Kriegers namens Abruk eroberten die vom Berg Eingedrungenen mehrere Räume und warfen Seile zu ihren Kameraden auf der Steppe hinunter. Bo-ugan befahl, Leitern an jene Fenster zu lehnen, hinter denen seine eigenen Leute warteten. Gleichzeitig ließ er Gräben unter der Basaltgrundmauer der Zikkurat schaufeln und Pfeile durch die Fenster schießen, wann immer Priester sich dort zeigten, um verzweifelt Beschwörungen hervorzustoßen oder Zauber zu wirken.
In der Zikkurat tobte Thotas vor Wut. Er führte seine Leute zu jenen Räumen, die Abruk eingenommen hatte, zerschmetterte die Türen und tötete die hundert Soldaten kraft seiner Macht, die er dem Sternenstein entzogen hatte. Dazu brauchte er nur die Hände auszustrecken, und ihnen entströmte Welle um Welle der tödlichen Kraft. Matius und die anderen Priester halfen ihrem Meister mit geringeren Kräften. Als Bo-ugans Leute die Leitern hinauf und durch die Fenster in die Räume kletterten, fanden auch sie den Tod durch Zauberkräfte.
Doch die ungeheure Anstrengung erschöpfte Thotas und die Priester. Sie zogen sich ins Innere der Zikkurat zurück, während geringere Zauberer durch die Räume und Korridore eilten, um Wachen und Barrikaden aufzustellen. Sie töteten oder wurden von den restlichen Kriegern getötet, die in der Falle saßen und durch die Zikkurat streiften. In den oberen Stockwerken des Heiligtums der Roten Sonne entstand viel Schaden, und viele von Thotas’ Priestern fanden den Tod. Doch keiner der Eindringlinge kam mit dem Leben davon. Auf der Steppe wurden Sturmleitern, Belagerungstürme und alle anderen Belagerungsgeräte, die Bo-ugan hatte erbauen lassen, vernichtet oder zurückgeworfen. Seine Männer waren zu Aschenhäufchen geworden. Wenig mehr als die Hälfte seiner Krieger überlebten, und nur drei der anderen Hetmane.
Die Truppen hoben Schützengräben aus, und als die Nacht einbrach, häuften sie Steine als Schutzwall auf. Die große Belagerung hatte begonnen.
Mehrere Tage später gelangten die Krieger, die sich unter der Zikkurat durchgegraben hatten, mitten in der Nacht in das Heiligtum. Zwar fielen viele von ihnen, doch auch so manche Blaugewandete ließen ihr Leben. Gegen Morgen hatten Bo-ugan und seine Männer ihren ersten dauerhaften Sieg errungen – sie hatten eine Bresche in die Tempelfestung geschlagen und einen äußeren Raum eingenommen.
Am folgenden Tag schickte Bo-ugan planmäßig einen Teil seiner Männer zurück über die Wiesen, damit sie sich in ihren Dörfern ausruhten und Verstärkung mit frischen Muskeln und Waffen schickten. An diesem Tag setzte er zwei weitere Trupps zum Untergraben der Zikkuratgrundsteine ein; in der Nacht fochten seine Männer einen blutigen Kampf gegen die Blaugewandeten und besetzten einen zweiten Raum.
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