»Narren!« schrillte der Zauberer.
Hätten Bo-ugans Leute einen klaren Kopf behalten, hätten sie bemerkt, dass der Mann aus dem Tempel nicht weniger Angst vor ihnen hatte als sie vor dem Tempel und vor dem Stern. Doch mit dem abgeschossenen Pfeil schwand jegliche Gelegenheit, wieder Ordnung herzustellen. Weitere Pfeile sirrten – so viele, so rasch und auf gut Glück, dass Bo-ugan und andere in den vorderen Reihen sich tief duckten, um nicht von den eigenen Leuten getroffen zu werden.
Unerschrocken trat der Zauberer aus der Tür. Hinter ihm eilten sechs weitere Blaugewandete waffenlos herbei, und ihre Haltung sprach von Stolz und Macht. Sie begannen etwas in einer unbekannten Zunge zu rufen und heftig zu gestikulieren, als wollten sie die streitbaren Dorfbewohner dadurch verscheuchen.
Plötzlich traf ein Pfeil einen Priester. Er schrie und fiel auf die Knie. Hastig zog er sich den Pfeil aus der Seite und warf ihn verächtlich zu Boden, bevor er seitwärts kippte.
Bo-ugan, der erkannte, dass dies die Wende bringen mochte, hob sein Schwert und führte seine Männer zum Sturm auf die Tür. Die Priester zogen sich, ohne ihren blutenden Kameraden mitzunehmen, eilig zurück, um die Steintür zu schließen, ehe weitere von ihnen verletzt wurden oder die Angreifer eindringen konnten. Als der mächtige Quader sich krachend schloss, ließen die erbosten Dorfbewohner ihre Wut an dem verwundeten Priester aus.
Der Nachmittag wich allmählich dem Zwielicht. Der Regen hörte auf, und Bo-ugans Truppen begannen auf den Wiesen vor dem Zikkurat ihr Lager aufzuschlagen, in der Überzeugung, sie hätten sich bereits ihr Recht auf dieses Gebiet gesichert. Viele waren der Meinung, dass die Zauberer nichts weiter als Irre waren und dass es dumm von den Stämmen gewesen war, sich so viele Generationen lang vor diesem Tempel und seinen Bewohnern zu fürchten. Der Priester, den sie getötet hatten, war jedenfalls nicht sonderlich geschickt darin gewesen, sich mit Zauber oder sonst wie am Leben zu halten.
Doch als die Sonne unterging und tiefe Schatten über die Wiesen warf, zeigte sich ein hochgewachsener Mann an einem offenen Fenster über der ersten Zikkuratstufe. Bo-ugan, die anderen Hetmane und die Krieger blickten zu ihm empor, als dieser Mann, blaugewandet wie die anderen, zu ihnen herabrief:
»Narren! Barbaren! Wollt ihr euch friedlich zurückziehen, oder müssen wir euch den Tod schicken?«
Die Antwort war wieder ein Pfeil, der gegen den Stein unterhalb des simslosen Fensters prallte.
Der Mann verschwand, nur die Hände waren noch zu sehen. Sie bewegten sich schnell und streuten ein Gestöber schillernder Kristallflöckchen in die Luft über den Dorfbewohnern. Neugierig, aber keineswegs beängstigt, starrten Bo-ugan und die anderen auf die Kristallblättchen, die wie große Schneeflocken auf sie herabtrieben.
Plötzlich begannen die Flocken zu brennen – wurden zur Flamme, die der Wind nicht zu löschen vermochte.
Die Dorfbewohner schrien und rannten und prallten in Hast gegeneinander. Bo-ugan, die anderen Hetmane und der Großteil der Truppen entkamen ungeschoren, doch etwa zwanzig Krieger wurden von den flammenden Kristallen erfasst. Ihr flüchtiges Schreien wurde vom Prasseln versengenden Fleisches abgelöst.
Doch wo die Flocken nicht auf Menschen fielen, verbrannten sie nicht einen Grashalm der Wiese.
Bo-ugan brüllte vor Qual und Wut und rief seine Männer zur Vergeltung. Sie stürmten den Basalt der Zikkurat und hämmerten sinnlos mit Schwertgriffen und Prügeln dagegen. Wieder fielen flimmernde Flocken auf sie hernieder. Die Männer, die es sahen, warnten die anderen brüllend, und alle versuchten sich – viel eiliger diesmal – in Sicherheit zu bringen. Trotzdem gingen fünf in Flammen auf, Flammen, die so anders waren als übliches Feuer.
Bo-ugan wurde klar, dass sie nur sich selbst schadeten, wenn sie so weitermachten. »Zurück!« brüllte er. »Zurück zum Fluss!«
In diesem Augenblick erwies Bo-ugan sich als echter Führer. Denn trotz seines gewaltigen Zorns gelang es ihm, nicht nur sich selbst, sondern auch seine Männer zu beherrschen. Er trieb sie zum Rückzug über die Wiesen, über den Fluss und zurück zu ihren Dörfern.
»Der Krieg beginnt«, versprach er seinen Truppen, ehe sie sich trennten. »Wir werden mit Belagerungsmaschinen zurückkehren und diese Hunde töten. Ihre Zauberei wird ihnen nichts nutzen.«
Und so, als die Nacht einbrach, suchten alle ihre Dörfer auf und ließen auf der Steppe eine verstümmelte Leiche und fünfundzwanzig verkohlte Tote zurück – die ersten Gefallenen des Krieges, die ersten Opfer einer langen Auseinandersetzung.
Auch auf dem Berg brach die Nacht herein, rauchig, dunkel und nass. Die Männer im Krater hatten endlich ein Netz aus den mitgebrachten Seilen geflochten, den Stein hineingerollt und dieses Netz an Eichenstangen gebunden. Als sie das Netz hoben, rissen mehrere Stränge, und eine Stange brach. Der Stein war ungewöhnlich schwer für seine Größe. Und dann kam es zu weiteren Verzögerungen, als sie sich mühsam die Kraterwand zu Thotas und den anderen wartenden Zauberern hinaufkämpften.
Der Weg bergab wurde noch mühsamer, immer wieder ergaben sich neue Schwierigkeiten, als hätte die Berührung des Steins die sagenhafte Solisgruft der Probleme geöffnet. Ein Jungpriester fiel und verrenkte sich den Knöchel; auf zwei andere gestützt, konnte er kaum den Weg fortsetzen.
Die mitgebrachten Fackeln wollten in dem Nieselregen nicht richtig brennen, und ein Fackelträger rutschte auf dem nassen Bergpfad aus und zog sich schmerzhafte Verbrennungen zu. Doch das Schlimmste geschah, als sie etwa die Hälfte des Berges zurückgelegt hatten: Die Männer, die den im Netz schaukelnden Stein trugen, schrien plötzlich auf, ließen ihn fallen und wichen zurück.
»Er lebt! Er lebt!«
Ergrimmt drehte Thotas sich um und funkelte sie an.
»Er lebt – er hat sich bewegt!« versicherten ihm die jungen Zauberer einstimmig.
»Narren!« schnaubte Thotas. Trotzdem trat er näher an den Sternenstein heran und betrachtete ihn. »Bringt Fackeln!« befahl er. »Beleuchtet den Stein!«
Falls der Stein sich bewegt hatte, jetzt, im Fackellicht und unter der eindringlichen Musterung Thotas, rührte er sich jedenfalls nicht. Der Meister streckte die Hand aus und spürte die Wärme, die trotz des Regens immer noch vom Stein ausging.
»Hebt ihn wieder hoch!« befahl er den Jungpriestern. Als sie zauderten›richtete er sich auf und hob drohend eine ringgeschmückte Hand, als beabsichtigte er, einen Fluch auf die Säumigen herabzubeschwören. »Tut, was ich befehle!« murmelte er gefährlich leise.
Verschüchtert versuchten die Träger sich selbst einzureden, dass sie lediglich einer durch Erschöpfung hervorgerufenen Sinnestäuschung zum Opfer gefallen waren. Sie griffen nach den Stangen und setzten ihren beschwerlichen Weg fort, ihrem Meister bergab folgend, dem die im Nieselregen und Wind blakenden Fackeln durch den Wald leuchteten.
Im Morgengrauen gelangte Meister Thotas mit seinen Leuten und dem Sternenstein in der Zikkurat an – müde, schmutzig, aber mit dem kostbaren Fund.
Thotas zeigte wenig Interesse, als man ihm vom Angriff der Dorfbewohner erzählte. Er befahl ausgeruhten Männern aus dem Tempel, den Stern zu übernehmen. Keuchend unter der Last schleppten sie ihn die inneren Treppen und Korridore der Stufenpyramide empor, um ihn schließlich auf den alten Altar im hohen Tempel zu legen.
Als er an seinem festen Platz war, schickte Thotas die Jungpriester aus dem Tempelraum. Sie schlossen die Tür hinter sich, und der Hohepriester blieb allein mit seinem Göttergeschenk zurück – seinem Geschenk, um das er und seine Vorgänger gebetet und um dessentwegen sie über Generationen hinweg Schwarze Magie gewirkt hatten …
Das erste Grau des Morgens fiel durch die beiden Fenster des Tempelraums, und der Stein vom Himmel wirkte nun kühl, ja frostig. Thotas trat nicht näher heran, aber er betrachtete ihn in unverhohlenem Staunen. Er flüsterte zu ihm, sprach zu ihm – vielleicht auch zu sich selbst.
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