Er wol te sagen: Hör mal, Zweiblum, Gnome und Kobolde führen ein kurzes, hartes und ziemlich gefährliches Leben. Und für jemanden, der nichts zu lachen hat, gibt es keinen Grund, fröhlich zu sein.
Rincewind legte sich die entsprechenden Worte zurecht, hielt sie jedoch zurück. Denn Zweiblum interessierte sich für die ganze Vielfalt der Schöpfung, bewunderte sogar gewöhnliche Kieselsteine, wenn sich ihm eine Gelegenheit bot, begegnete al em Neuen mit Aufgeschlossenheit.
Trotzdem sprang er nie über den eigenen Schatten. Im Grunde genommen beschränkte sich seine Welt auf die Maßstäbe, die er ihr anlegte.
Wenn ihm jemand die Wahrheit sagte, mochte er wie ein kleines Kind reagieren, dem man erzählte, in Wirklichkeit sei der Weihnachtsmann längst in Pension gegangen und ließe sich von seinem jüngeren Bruder vertreten (der jedoch ein Faulpelz war und es vorzog, den Winter irgendwo in den Tropen zu verbringen – aus diesem Grund mußten dauernd die eigenen Väter einspringen).
»Schie mie wiedelwie«, ertönte eine dünne Stimme dicht neben Rincewinds Fuß. Swires – so hieß der Gnom – sah auf. Der Zauberer hatte ein gutes Ohr für fremde Sprachen und verstand sofort, was ihm der Winzling anbot: »Ich habe noch ein wenig leckeres Molcheis von gestern.«
»Klingt verlockend«, sagte Rincewind und verzog das Gesicht.
Swires klopfte auf seinen Knöchel.
»Ist mit dem anderen Großen alles in Ordnung?« fragte er besorgt.
»Er leidet nur an den Nachwirkungen eines Realitätsschocks«, erklärte Rincewind. »Du hast nicht zufäl ig eine rote Mütze?«
»Was?«
»Schon gut.«
»Ich weiß, wo sich Nahrung für Große befindet«, meinte der Gnom.
»Und auch Obdach. Es ist nicht weit.«
Rincewind sah zum dunkler werdenden Himmel hoch. Das Tageslicht glitt über die Landschaft und verschwand in der Ferne, und die Wolken erweckten den Anschein, als habe ihnen gerade jemand etwas von Schnee zugeflüstert. Offenbar zogen sie den Vorschlag in Betracht. Nun, natürlich durfte man Leuten, die in Pilzen lebten, nicht sofort vertrauen, aber ein Köder in Form einer heißen Mahlzeit und eines weichen Betts war für den Zauberer viel zu verlockend.
Sie machten sich auf den Weg. Nach einigen Sekunden stand der Koffer vorsichtig auf und folgte ihnen.
»Pscht!«
Er drehte sich langsam um, wobei sich die Beine in einem komplizier-ten Muster bewegten. Ein Teil der Truhe neigte sich nach oben.
»Wie fühlte es sich an, von einem Tischler hergestel t worden zu sein?« fragte der Baum beunruhigt. »Tat es weh?«
Der Koffer schien darüber nachzudenken. Alle Messinggriffe und Wurmlöcher drückten extreme Konzentration aus.
Dann zuckte er mit den Schultern – mit der Klappe, um ganz genau zu sein – und trabte fort.
Der Baum seufzte und schüttelte einige welke Blätter von den Zweigen.
Die Hütte war klein, baufällig und ebenso reich verziert wie eine Spit-zendecke. Rincewind kam zu dem Schluß, daß irgendein verrückter Schnitzer daran gearbeitet und Gelegenheit bekommen hatte, sich richtig auszutoben, ehe man ihn schließlich überwältigen konnte. An Türen und Fensterläden zeigten sich die hölzernen Nachbildungen von Weintrau-ben und dicken Reben, und an vielen Stellen sah der Zauberer halb-mondförmige Ausschnitte. Hunderte von kiefernzapfenartigen Auswüchsen bedeckten die Wände. Rincewind rechnete jeden Augenblick damit, daß sich eine der oberen Luken öffnete und ein gewaltiger Kuk-kuck die Zeit verkündete.
Darüber hinaus bemerkte er die irgendwie schmierig anmutende Luft.
Grüne und purpurne Funken stoben von seinen Fingernägeln.
»Ein starkes magisches Feld«, brummte er. »Mindestens hundert Millithaum.« [2] Magische Kraft wird in Thaum gemessen. Ein Thaum ist als die thaumaturgische Energiemenge definiert, die nötig ist, um eine kleine Taube oder drei nor-malgroße Billardkugeln zu beschwören.
»Hier gibt es überal Magie«, sagte Swires. »Einst lebte hier eine alte Hexe. Vor vielen Jahren ging sie fort, doch ihre Zauberei ist nach wie vor wirksam und erhält das Haus.«
»He, mit dieser Tür stimmt irgend etwas nicht!« rief Zweiblum.
»Warum braucht ein Haus Magie, um erhalten zu werden?« fragte Rincewind. Unterdessen streckte der Tourist die Hand aus und berührte vorsichtig die Wand.
»Sie ist klebrig!«
»Nougat«, erklärte Swires.
»Ich kann’s kaum fassen! Ein echtes Knusperhäuschen! Rincewind, ein echtes…«
Der Zauberer nickte bedrückt. »Ja«, erwiderte er verdrießlich. »Der so-genannte Zuckerbäckerstil in der Architektur. Hat sich nie durchgesetzt.«
Mißtrauisch beäugte er den Türklopfer aus Lakritze.
»Irgendwie erneuert es sich immer wieder«, sagte Swires. »Ein echtes Wunder, nicht wahr? Heutzutage findet man so etwas nur sehr selten.
Man kann einfach nicht genug Lebkuchen auftreiben.«
»Im Ernst?« fragte Rincewind und schnitt ein finsteres Gesicht.
»Laßt uns hineingehen«, sagte der Gnom. »Aber achtet auf die Fußmatte.«
»Warum?«
»Sie besteht aus Zuckerwatte.«
Die große Scheibe drehte sich langsam unter einer schuftenden Sonne, die endlich Feierabend machen wollte. Das Tageslicht strömte fort, und in tiefen Mulden sammelten sich einige Reste, die schließlich versicker-ten. Die Nacht brach an.
Trymon saß in seinem kühlen Zimmer in der Unsichtbaren Universität, über ein Buch gebeugt. Seine Lippen zitterten lautlos, während er mit dem Zeigefinger über die manchmal recht seltsamen Symbole einer uralten Schriftsprache strich. Er las, daß die Große Pyramide von Tsort (die längst nicht mehr existierte) aus einer Million und dreitausendzehn Kalk-steinblöcken errichtet worden war, erfuhr weiterhin, daß bei dem Bau zehntausend Sklaven ums Leben kamen. Angeblich erstreckte sich im Innern des gewaltigen Gebäudes ein Labyrinth aus geheimen Gängen, und die wesentlichsten Bestandteile der vielgerühmten Tsort-Weisheit zierten die Wände. Die Höhe und Länge, geteilt durch die Hälfte der Breite, ergaben genau 1,67563. Anders ausgedrückt: Der Wert entsprach exakt dem 1237,98712567fachen der Differenz zwischen der Entfernung zur Sonne und dem Gewicht einer kleinen Apfelsine. Sechzig lange Scheibenweltjahre vergingen bis zur Fertigstellung der Pyramide.
Ziemlich viel Mühe, um den Göttern näher zu sein, dachte Trymon. Die zehntausend Sklaven, die bei der Arbeit zu Tode geschunden wurden, haben dieses Ziel wesentlich schneller erreicht.
Zur gleichen Zeit, im Wald von Skund, knabberten Zweiblum und Rincewind an Pfefferkuchenstücken, die sie aus dem Kaminsims gebrochen hatten – und dachten sehnsüchtig an eingelegte Zwiebeln.
Und weit entfernt auf der Scheibenwelt, die einen Kollisionskurs steuerte, was zu diesem Zeitpunkt al erdings noch niemand wußte (abgesehen viel eicht vom Tod, der sich bereits die knöchernen Hände reiben mochte), drehte sich ein berühmter Held eine Zigarette. Ohne zu ahnen, was das Schicksal für ihn bereithielt.
Mit geübtem Geschick formten seine Finger ein Objekt, das man mit vol em Recht als interessant bezeichnen konnte. Er hatte diese Kunst von den wandernden Zauberern gelernt und sich auch ihre Angewohn-heit zu eigen gemacht, Stummel in einem Lederbeutel aufzubewahren und sie später für neue Zigaretten zu verwenden. Das unerbittliche Gesetz der Wahrscheinlichkeit legte den Schluß nahe, daß zumindest ein Teil des Tabaks schon seit Jahren geraucht wurde, in mehr oder weniger kurzen Abständen. Die Substanz, die der Held gerade zu entzünden versuchte… Nun, normalerweise fand sie beim Straßenbau Verwendung.
Jener Mann genoß einen so guten Ruf, daß ihn einige Reiter, die einem Nomadenstamm angehörten, respektvol eingeladen hatten. Sie saßen nun an einem Feuer, in dem getrocknete Pferdeäpfel brannten. Normalerweise zogen die Nomaden im Winter randwärts, doch diese Krieger hatten zu lange gewartet, hockten in ihren Zelten, stöhnten angesichts der unglaublich hohen Temperatur von sage und schreibe minus drei Grad und klagten über drohende Hitzeschläge.
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