Wilde warf sich in die Brust. »Ich bin ein Held gewesen. Vielleicht erinnerst du dich.«
»Das ist ziemlich lange her«, sagte Hammer.
Plötzlich sprang das Skelett auf sie zu und die drei stoben auseinander. Wilde zog einen Pfeil aus dem Köcher und spannte den Bogen. Das Scheusal wirbelte herum, wandte sich ihm zu, nach wie vor grinsend. Wilde brauchte nicht lange zum Zielen und ließ den Pfeil fliegen. Er durchschlug den Schädel und warf das Skelett so wuchtig zurück, dass es krachend vor eine geschlossene Tür prallte. In schneller Folge schickte Wilde drei Pfeile hinterher, um mit ihnen den Schädel an der Holztür festzunageln, was auch gelang. Der Knochenmann versuchte vergeblieh, sich wieder loszureißen; die Pfeile steckten tief und fest.
Wilde setzte seine alte hochmütige Miene auf »Ich bin so gut wie eh und je, Hammer; vergiss das nicht.«
Der Knochenmann erschlaffte und hing leblos an der Tür. Die dicken Spinnfäden, die ihn zusammenhielten, lösten sich von den Gliedern, fielen zu Boden und schlängelten sich mit verblüffender Geschwindigkeit zurück ins große Gespinst. Ohne Halt tropften nun die Knochen, einer nach dem anderen, zu Boden, bis nur noch der Schädel an den Pfeilen hing. Zum Schluss fiel auch die Kinnlade und nahm das starre Grinsen mit sich.
Jack wollte eine Bemerkung machen, doch es verschlug ihm die Sprache, als er sah, dass die Mitte des weißlichen Gespinsts wieder in Bewegung geriet. Die dicken Fasern und Stränge dehnten und verdrehten sich, bis schließlich das gesamte Knäuel von heftigen Zuckungen geschüttelt wurde.
Wilde legte einen Pfeil an die Bogensehne und ließ ihn in die pulsierende Masse schnellen. Das Geschoss verschwand darin, spurlos. Ein Strang aus grauen Fasern wuchs nun aus dem Knäuel und griff wie ein Tentakel nach Jack, der, um ihm auszuweichen, zur Seite springen musste. Hammer schlug beherzt zu und durchtrennte den Tentakel mit dem Schwert. Kaum war das abgeschnittene Ende zu Boden gefallen, wuchs er zur alten Länge nach. Gleichzeitig bildeten sich nun weitere Tentakel, die tastend umherwehten. Jack schreckte zurück.
»Wir müssen hier raus, Hammer! Dagegen kommen wir nicht an.«
»Er hat Recht«, stimmte Wilde zu. »Wir haben keine Chance.«
»Und ob wir die haben!«, rief Hammer.
Er steckte sein Schwert in die Scheide am Gürtel und griff stattdessen nach dem Langschwert. Das mit Lederstreifen umwickelte Heft schien ihm geradezu in die Hand zu springen, und im Nu glitt die lange Klinge aus der Scheide. Über sechs Fuß maß das Schwert, und seine Parierstange war so lang wie Hammers Unterarm.
Obwohl sie äußerst schwer sein musste, führte Hammer seine Waffe mit erstaunlicher Leichtigkeit. Der Stahl schimmerte gelblich, was so unansehnlich war, dass sich Jack vor Abscheu schüttelte. Trotz seiner verminderten Instinkte konnte er deutlich die Gewalt spüren, die von dieser Waffe ausging. In der langen Klinge tobte wüste Zauberkraft, die sich nur mittels uralter Formeln halbwegs bändigen ließ. Jack ahnte, dass hinter dieser Kraft nur böse Mächte stecken konnten.
Er glaubte auch zu spüren, dass dieses Schwert womöglich lebte und beseelt war.
Hammer holte aus, setzte einen Schritt nach vorn und hieb mit der Klinge in die Mitte des Gespinsts. Weiße Fasern schwirrten umeinander, als sich das zitternde Knäuel zurückzuziehen versuchte, weg von der mächtigen Waffe. Doch die bohrte sich tief ins Herz des Geschlinges und zog Hammer hinter sich her. Und was mit der glühenden Klinge unmittelbar in Berührung kam, löste sich zischend auf. Das Gespinst schwelte und bebte, warf lange Arme und Fäden in die Luft, als wollte es sich davonhangeln.
Langsam schritt Hammer näher. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzogen - wegen des fürchterlichen Gestanks aus dem versengten Gewebe. Das Schwert brannte mit bitter gelber Flamme. Immer wieder stach er damit zu und das Netz zerfiel in verkohlte Klumpen. Aus dem milchig weißen Herz kamen dunkle Gestalten torkelnd zum Vorschein, Gliederpuppen, zusammengesetzt aus Knochen und Horror, untote Geschöpfe des Netzes, geführt an dessen Fäden. Sie warfen sich Hammer entgegen, langten mit ihren Knochenhänden und gelben Klauen nach ihm aus, mussten aber doch zerbrechen und vergehen unter dem Streich der Klinge, die sie aus der Sklaverei des Gespinstes befreite.
Der Korridor war knapp drei Meter hoch und fast ebenso breit. Das Gespinst hatte ihn auf eine Länge von über fünf Schritt ausgefüllt. Als Hammer das Schwert endlich ruhen ließ und sich umschaute, waren nur noch ein paar rußschwarze Fäden übrig geblieben, die von der Decke und den Wänden herabhingen. Auf den Steinplatten am Boden lag ein
Wust alter Knochen, die nun endlich ihren Frieden hatten. Hammer betrachtete das Schwert. Die Klinge leuchtete ebenso gelblich wie die Flammen, die von einem Scheiterhaufen aufstiegen.
»Verdammter Narr!«, zischte Wilde. »Das ist der Wolfsfluch, stimmt's?«
»Ja«, antwortete Hammer. »Das ist er.« Er warf das Langschwert zurück in die Scheide, mit Nachdruck, denn es schien sich dagegen zu sträuben.
Jack warf einen prüfenden Blick auf die Kerze in seiner Laterne, die er die ganze Zeit über festgehalten hatte.
Dass die Kerze noch brannte, war wie ein Wunder. Wilde zog die Fackel aus der Halterung und wandte sich wieder an Hammer.
»Ich dachte, das Höllenschwert sei während des Dämonenkrieges verloren gegangen«, sagte er.
»Das war es auch. Und ich hab's gefunden.«
»Dann halt dich fern von mir, Hammer. Komm mir nicht zu nahe.«
»Was soll das heißen, Wilde? Hast du Angst?«
»Vor diesem Ding? O ja. Und das hättest du auch, wenn du diesem verfluchten Schwert nicht schon verfallen wärst.«
Jack hatte keine Ahnung, wovon die Rede war, und es kümmerte ihn auch nicht. Er war nur froh, dass ihm dieses Gespinst und seine scheußlichen Geschöpfe nicht mehr gefährlich werden konnten. Aber es gab noch weitere Gefahren, und obwohl auch er das Langschwert ziemlich ungeheuerlich fand, war Jack vor allem darauf aus, das Gold zu finden und möglichst schnell wieder zu verschwinden, ehe die Ranger ihnen auf die Schliche kamen. Als er diesen Gedanken aussprach, nickten die anderen beifällig.
»Du hast Recht. Weil du dumm genug warst, dich den Rangern zu zeigen, werden sie jetzt wahrscheinlich auf der Hut sein, und wir können uns nicht erlauben, entdeckt zu werden. Wenn sie irgendwo in der Nähe sind, werden sie uns bestimmt gehört haben. Am besten, wir verziehen uns an einen sicheren Ort und halten uns für eine Stunde oder so bedeckt, bis wieder Ruhe eingekehrt ist.«
»Bist du verrückt? Ich bleib an diesem gottverlassenen Ort keine Minute länger als nötig«, rief Wilde mit Blick auf Hammer und ballte die Faust um seinen Bogen. »Du hast doch das Gespinst gesehen. Angeblich sind diese Scheusale ausgestorben, seit der Bin-sicht im Dämonenkrieg vernichtet worden ist. Wenn es hier im Fort noch gibt, was eigentlich nie hätte existieren dürfen, sollten wir zusehen, möglichst schnell wieder weg zu sein. Wer weiß, was uns hier sonst noch für Scheusale über den Weg laufen.«
»Du enttäuschst mich, Edmond«, sagte Hammer. »Im Ernst. Sieh dich bloß einmal an. Ich kann mich an die Zeit erinnern, als du noch Mitglied der königlichen Garde warst. Du hast den aufrührerischen Schwertmeister Sir Guillain erschlagen und dem
König in der entscheidenden Schlacht des Dämonenkrieges zur Seite gestanden. Und was ist aus dir geworden?
Ein Schlappschwanz, der sich vor Angst in die Hose macht.«
»Mein Gedächtnis arbeitet auch noch ganz gut«, entgegnete Wilde. »Damals war ich ein junger Spund, der geglaubt hat, was ihm zum Thema Ehre und Pflicht vorgelogen worden ist. So naiv bin ich nicht mehr. Ich riskier mein Leben nicht mehr für andere.«
»Du wirst tun, was ich von dir verlange«, flüsterte Hammer. »Nicht wahr?«
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