Simon R. Green
Das Regenbogen-Schwert
Wir kennen aus jenen Tagen viele Legenden über tapfere, tollkühne Recken.
Dies hier ist keine davon.
KAPITEL EINS
Das Regenbogen-Schwert
PRINZ RUPERT LENKTE sein Einhorn in den Schlingpflanzenwald und spähte verdrießlich durch den Nieselregen, während er halbherzig nach dem Floh fahndete, der sich irgendwo unter seinem Brustharnisch verkrochen hatte. Trotz der feuchten Kälte schwitzte er fürchterlich unter dem Gewicht seiner Rüstung, und seine Stimmung war so tief gesunken, dass er sie fast aus den Augen verloren hatte. »Zieh aus, mein Sohn, und erlege einen Drachen!«, hatte ihn König Johann unter dem Beifall der Höflinge aufgefordert. Die hatten leicht jubeln. Schließlich mussten sie dem Drachen nicht persönlich gegenübertreten. Oder zur Regenzeit in voller Rüstung durch den Schlingpflanzenwald reiten. Rupert gab die Suche nach dem Floh auf und zerrte unbeholfen an seinem Helm, aber das brachte auch nichts. Das Wasser tropfte ihm weiterhin ins Genick.
Hohe, dicht gedrängte Bäume säumten den schmalen Pfad und verschwammen zu einem grünlichen Halbdunkel, das seine Stimmung widerspiegelte. Dicke, fleischige Lianen wickelten sich um die Stämme und hingen in verfilzten Knäueln von den Zweigen. Eine schwere, düstere Stille lag über dem Schlingpflanzenwald. Die einzigen Laute waren die Regentropfen, die unentwegt von den wasserschweren Ästen der Bäume rieselten, und die gedämpften Hufschläge des Einhorns. Zäher Schlamm und abgefallenes Laub machten den gewundenen, Jahrhunderte alten Pfad noch glitschiger als sonst, und das Einhorn schlitterte und stolperte vor sich hin, während es Prinz Rupert tiefer in den Schlingpflanzenwald trug.
Rupert starrte finster umher und seufzte tief. Sein Leben lang hatte er begierig gelauscht, wenn die Barden an langen, dunklen Winterabenden mit getragenem Ernst von den glorreichen Abenteuern seiner Vorfahren sangen. Er erinnerte sich, wie er als Kind mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund am Feuer im Großen Saal gesessen und mit wohligem Entsetzen die Geschichten von bösen Riesen und Hexen aufgesogen hatte, die Legenden von Zauberschwertern und Ringen, die ihrem Träger Macht verliehen. Unter dem Einfluss der Familiensagen hatte sich Rupert seit frühester Jugend geschworen, eines Tages den Helden zu geben wie Großonkel Sebastian, der drei Jahre seines Lebens für drei Wünsche eintauschte und damit Prinzessin Elaine aus dem Vermauerten Turm befreite. Oder wie Großvater Eduard, der mutterseelenallein der schrecklichen Nachthexe gegenübergetreten war, von der man sich erzählte, sie verdanke ihre verführerische Schönheit der Tatsache, dass sie im Blut von Jungfrauen bade.
Nun bekam er endlich die Gelegenheit, sich als Held zu erweisen, und was machte er daraus? Ein Riesen-Schlamassel! Im Grunde, so fand Rupert, war das alles die Schuld der Barden. Die ließen sich so lang und breit über Recken aus, die ein Dutzend Feinde mit einem einzigen Schwertstreich erledigten, weil sie reinen Herzens waren, dass sie nicht mehr dazu kamen, die eigentlich wichtigen Dinge zu schildern: wie man verhindern konnte, dass es in die Rüstung tropfte, um nur ein Beispiel zu nennen, wie man unbekannte Früchte mied, die einen elenden Durchmarsch verursachten, oder wie man unterwegs ohne große Schinderei eine Latrine aushob. Es gab vieles im Umfeld eines Helden, das die Barden mit keinem Wort erwähnten. Rupert steigerte sich gerade in eine echt miese Laune hinein, als das Einhorn unter ihm plötzlich strauchelte.
»Vorsicht!«, schrie der Prinz.
Das Einhorn blies arrogant durch die Nüstern. »Du hast leicht reden, da droben in deinem Sattel. Wem bleibt denn die ganze Schinderei? Die Rüstung, in der du steckst, wiegt mindestens eine Tonne. Lange macht mein Kreuz das nicht mehr mit.«
»Ich sitze jetzt seit drei Wochen im Sattel«, entgegnete Rupert ohne jedes Mitgefühl. »Mein Kreuz macht mir weniger zu schaffen als die Partie eine Etage tiefer.«
Das Einhorn bleckte höhnisch das Gebiss und hielt dann so jäh an, dass der Prinz um ein Haar kopfüber aus dem Sattel geflogen wäre. Rupert umklammerte das lange gedrehte Horn, um nicht die Balance zu verlieren.
»Was ist denn nun schon wieder los? Eine Pfütze auf dem Weg? Hast du vielleicht Angst, dir die Hufe schmutzig zu machen?«
»Ha, witzig!«, fauchte das Einhorn. »Warum steigst du nicht ab und gehst zu Fuß weiter? Allerdings versperrt da vorn ein gewaltiges Spinnennetz den Weg, falls dir das entgangen sein sollte.«
Ruperts Brust entrang sich ein tiefer Seufzer. »Und nun willst du vermutlich, dass ich mir die Geschichte aus der Nähe ansehe?«
»Wenn es dir nichts ausmachen würde…« Das Einhorn scharrte mit den Hufen, und einen Moment lang fühlte sich der Prinz seekrank. »Du weißt, wie mir vor Spinnen graust…«
Rupert fluchte ergeben und schwang sich unbeholfen aus dem Sattel. Die Rüstung knirschte bei jeder Bewegung. Der Prinz versank knapp zehn Zentimeter im matschigen Erdreich und hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Dann klappte er das widerspenstige Visier hoch und studierte voller Unbehagen das riesige Netz. Dicke, milchige Fäden spannten sich kreuz und quer über den engen Pfad, besetzt mit glitzernden Regentropfen-Ketten. Rupert zog die Stirn kraus. Welche Spinnen woben schon ein drei Meter hohes Netz? Er stapfte mühsam durch den Schlamm, zog sein Schwert und stieß damit zaghaft einen der Fäden an. Die Klinge klebte sofort fest, und er musste das Heft mit beiden Händen umfassen, um die Waffe loszureißen.
»Das fängt ja gut an«, murmelte das Einhorn.
Rupert überhörte den Kommentar und starrte das Fädengewirr nachdenklich an. Je genauer er es betrachtete, desto weniger Ähnlichkeit hatte es mit einem Spinnennetz. Das Muster stimmte nicht. Die Fäden bildeten Knoten und Klumpen, hingen in losen Fetzen von den oberen Ästen und fielen in dicken Strängen zu Boden, wo sie im Schlamm des Waldpfads versanken. Und dann spürte Rupert, wie sich ihm langsam die Nackenhaare aufstellten, als ihm zu Bewusstsein kam, dass das Netz unentwegt zitterte, obwohl völlige Windstille herrschte.
»Rupert«, sagte das Einhorn leise.
»Wir werden beobachtet, stimmt's?«
»Ja.«
Rupert runzelte die Stirn und umklammerte das Schwert.
Etwas folgte ihnen, seit sie bei Tagesanbruch den Schlingpflanzenwald betreten hatten, etwas, das sich in den Schatten verbarg und nicht ans Licht wagte. Rupert verlagerte vorsichtig das Gewicht, um sich mit dem Boden unter seinen Füßen vertraut zu machen. Wenn es zu einem Kampf käme, würde der zähe Schlamm sicher zu einem Problem. Er nahm den Helm ab und legte ihn am Wegrand nieder; die Augenschlitze engten sein Gesichtsfeld zu stark ein. Als er sich wieder aufrichtete, schaute er beiläufig über die Schulter und erstarrte, als er ein schmächtiges, missgestaltetes Wesen von einem Baum zum anderen huschen sah. Obwohl es etwa so groß wie ein Mensch war, bewegte es sich nicht wie ein Mensch, und ehe es wieder mit den Schatten verschmolz, reflektierte das Licht von seinen Fängen und Klauen. Regen trommelte auf Ruperts Kopf und lief ihm über das Gesicht, während sich in seinem Innern das kalte Grauen ausbreitete.
Jenseits des Schlingpflanzenwaldes lag die Finsternis. So lange man sich zurückerinnerte, hatte in einem Teil des Waldes ewige Nacht geherrscht. Kein Sonnenstrahl durchdrang dieses Gebiet, und was immer dort hauste, scheute das Licht des Tages. Die Kartenmacher nannten die Region Dunkelwald und warnten: Achtung, Dämonen! Seit undenklichen Zeiten bestand zwischen Waldkönigreich und Dunkelwald die Barriere des Schlingpflanzenwaldes, eines unheimlichen Gewirrs aus Sümpfen, Dorngestrüppen und anderen Gefahren, dem bislang nur wenige Menschen lebend entronnen waren. Lautlose Raubtiere umschlichen die von Unkraut und Schlinggewächsen überwucherten Pfade und lauerten leichtsinnigen Wanderern auf. In den letzten Monaten waren jedoch immer öfter fremdartige Wesen in das Waldkönigreich eingedrungen, undeutliche Gestalten, die das Tageslicht mieden. Manchmal, wenn die Sonne ganz hinter dem Horizont versunken war, hörten die Bewohner einsamer Gehöfte ein Kratzen an ihren fest verriegelten Türen und Fensterläden und fanden am nächsten Morgen tiefe Rillen im Holz und verstümmelte Tiere in den Ställen.
Читать дальше