»Danke«, sagte er. »Könnte sein, dass du mir das Leben gerettet hast.«
»Könnte sein«, antwortete der Mann. »Wie bist du in dieses Loch hineingeraten?«
Jack zuckte die Achseln. »Ich war ein bisschen zu neugierig.« Er schaute sich um und war nicht überrascht zu sehen, dass der Wachposten immer noch auf dem Baumstumpf saß, gerade so, als wäre es ihm völlig gleichgültig, was hinter seinem Rücken vor sich ging. Jack ging auf die reglose Gestalt zu und sah ihr ins Gesicht. Es war eine Puppe - auf Abstand mit einer lebendigen Person zum Verwechseln ähnlich, aber eben nur eine Puppe. Jack musste lachen, obwohl ihm gar nicht danach zumute war.
»Vogelscheuche führt Vogelscheuche auf den Leim. Nicht schlecht. Und es hätte mich tatsächlich erwischt, wenn du nicht vorbeigekommen wärst. Besten Dank.«
»Das reicht mir nicht«, sagte der Mann ruhig.
Jack merkte auf und griff möglichst unauffällig mit der Rechten an den linken Ärmel, in dem sein Messer steckte.
»Versuch's gar nicht erst«, sagte der Mann. »Du willst doch nicht, dass ich mein Schwert ziehe, oder?«
»Nein«, antwortete Jack.
»Mein Name ist Jonathon Hammer. Ich habe dir das Leben gerettet. Du stehst jetzt in meiner Schuld, Vogelscheuchen-Jack. Die kannst du abtragen, indem du für zwei Monate in meinen Dienst trittst.«
Jack ließ sich die Grube und Hammers Schwert durch den Kopf gehen und nickte. »Na gut«, sagte er. »Für zwei Monate bin ich dein Diener.«
»Schön. Es heißt, dass du auf deine Art ein ehrenwerter Mann bist. Tu, was ich dir sage, und wir werden gut miteinander auskommen. Vielleicht wirst du sogar reich dabei. Solltest du allerdings querzutreiben versuchen…«
»Ich stehe zu meinem Wort«, knurrte Jack. »Darauf ist Verlass.«
»Ja«, antwortete Hammer grinsend. »So sagt man.«
Das war vor zwei Wochen gewesen. Seitdem ging es Jack so dreckig wie nie zuvor in seinem Leben. Mehr als einmal hatte er darüber nachgedacht, Hammer und Wilde den Rücken zu kehren und im Wald zu verschwinden.
Doch das konnte er einfach nicht. Vogelscheuchen-Jack war ein Mann, der auf Ehre hielt und niemandem etwas schuldig blieb.
Hammer und Wilde waren zum Aufbruch bereit. Jack führte sie durch den Wald zur Grenzfeste. Je eher er die ganze unleidige Geschichte hinter sich gebracht haben würde, desto besser. Jedoch - und darauf war er nicht weiter eingegangen, weil die beiden bloß gelacht hatten - mit dem Fort stimmte irgendetwas nicht. Darin spukte es. Das spürte er unter der Haut. Doch er sagte auch jetzt nichts und begnügte sich damit, Augen und Ohren besonders aufmerksam offen zu halten.
Es drängte sich ihm das ungute Gefühl auf, dass seine Probleme noch längst nicht überstanden waren.
Träume in erwachender Welt
Über dem Wald brach schließlich der Gewittersturm aus. Donner krachten, Blitze zuckten, und der Regen stürzte wie aus Eimern gegossen herab, schlug durchs Laub und prasselte auf den Boden. Die offenen Pfade verwandelten sich sofort in Suhlen aus Schlamm und Mulch. Die Vögel und alles Getier suchten in Löchern oder Bauten Schutz vor der Sintflut, und im ganzen Wald bewegte sich kein lebendes Wesen mehr, ausgenommen jene drei dunklen Gestalten, die, nass bis auf die Haut, mit fester Absicht ihr Ziel verfolgten.
Das Donnern schien kein Ende nehmen zu wollen; und die Blitze folgten Schlag auf Schlag aufeinander, dass es zwischendurch kaum wieder dunkel wurde. Die Banditen stampften durch tiefen Morast, rutschten immer wieder aus und fielen nicht selten der Länge nach hin; Hammer aber ließ sich durch nichts aufhalten und trieb die beiden anderen mit Nachdruck an. Der Mond war von dicken Wolken verhängt, und das Licht der Laterne, die die Männer mit sich führten, reichte nicht weiter als zwei, drei Schritt. Selbst Vogelscheuchen-Jack drohte die Orientierung zu verlieren, doch unter Aufbietung all seiner Fähigkeiten gelang es ihm schließlich, die große Lichtung aufzuspüren. Dort angekommen, stellten sich die drei unter einen Baum und spähten auf die dunkle Silhouette des Forts hinaus.
Jack nahm kaum Notiz von Kälte und Nässe; er war daran gewöhnt. Regenwasser tropfte ihm vom Gesicht, durchdrang seine Lumpen, was er aber nur am Rande wahrnahm. Wie einem Tier war ihm einerlei, was jenseits seines Einflusses lag. Eine gründliche Wäsche konnte ihm und seinen Sachen wohl auch nicht schaden, zumal Hammer und Wilde merklich ungehalten die Nase rümpften, sooft sie Wind von ihm bekamen. Er warf Wilde einen Blick zu, der in seinem dünnen, triefend nassen Mantel einen erbärmlichen Eindruck machte. Das lange Haar klebte ihm im Gesicht, und das spärliche Licht trug dazu bei, dass er wie eine ertrunkene Ratte aussah. Er zitterte am ganzen Leib und schniefte und fluchte ständig vor sich hin. Er hielt den Kragen eng umschlossen, um zu verhindern, dass er, einem Trichter gleich, den Regen in den Nacken und über den blanken Rücken laufen ließ. Hammer dagegen schien vom schlechten Wetter ungerührt zu sein; er starrte gebannt in Richtung Fort und achtete so wenig wie Jack auf Nässe und Kälte.
»Zumindest können wir jetzt ziemlich sicher sein, dass auf den Wehrgängen so gut wie keine Wachen stehen«, erklärte er nach einer Weile. »Wer rechnete auch damit, dass bei dem Regen jemand unterwegs ist?«
»Jedenfalls keiner, der noch halbwegs bei Verstand ist«, maulte Wilde, der gleich darauf kräftig niesen musste und anschließend den Schnodder mit dem Ärmel abwischte. »Wie lange wollen wir hier eigentlich rumstehen?
Ich hol mir noch den Tod.«
An Jack gewandt, fragte Hammer: »Wird sich das Gewitter bald verziehen?«
Jack sah sich um und dachte einen Augenblick lang nach. »Ich glaube nicht. Es wird sich allem Anschein nach eher noch verschlimmern.«
»Also gut«, sagte Hammer. »Machen wir uns auf den Weg. Was auch passiert, wir bleiben zusammen. Nicht dass einer auf die Idee kommt, einen Alleingang zu machen.«
Er sah sich ein letztes Mal um, deckte die Laterne ab und rannte dann, dicht gefolgt von Wilde und Jack, auf das Grenzfort zu. Auf der offenen Lichtung schüttete der Regen so heftig herab, dass er alle anderen Laute übertönte, und trotz Laterne und der vielen Blitze war kaum mehr die Hand vor Augen zu sehen. Wilde ließ sich zurückhängen, zumal er immer wieder ausglitt und stürzte. Jack hatte Mühe, ihn auf Trab zu halten. Trotzdem war Hammer bald enteilt und nur noch als undeutlicher Schatten auszumachen. Unter dem Eindruck des kalten Regens zitterte Jack am ganzen Leib. Die Lichtung kam ihm jetzt viel größer vor als er gedacht hatte. Das Fort war nicht zu erkennen, und er fragte sich, ob Hammer womöglich die Orientierung verloren hatte und am Ziel vorbeilief. Doch dann tauchte das Gemäuer aus dem Regen auf, so plötzlich, dass er scharf abbremsen musste, um nicht dagegen zu laufen. Im Windschatten der Mauer schüttelte sich Jack wie ein Hund, was ihm aber auch nicht viel half. Er konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor in seinem Leben derartig nass gewesen zu sein. Der Regen hatte noch zugenommen und drohte einem den Atem zu nehmen.
Hammer forderte ihn mit Gesten auf, das Seil aufzuschlagen. Zu reden wäre vergeblich gewesen, so laut donnerte und regnete es. Jack wickelte das Seil auseinander, prüfte den Halt des Draggens und blickte zur Mauer hinauf. Die ins Gesicht klatschenden Tropfen taten so weh, dass er sich abwenden musste. Es dauerte eine Weile, bis er wieder Mut fasste, einen Blick nach oben riskierte und den Draggen hochschleuderte. Der flog gleich beim ersten Versuch dicht über den Mauerrand hinweg und verhakte sich dahinter. Jack zog das Seil stramm und schaute Hammer an, der ihm zunickte und ihn aufforderte, als Erster hinaufzuklettern. Jack vergewisserte sich, dass das Seil fest genug war und machte sich auf den steilen Weg nach oben. Seil und Mauer waren schrecklich schlüpfrig, und Jack musste ein ums andere Mal blitzschnell reagieren und fest zupacken, um einen Absturz zu verhindern. Als er endlich die Bastion erreicht hatte, ließ er sich entkräftet in den Wehrgang fallen und schnappte nach Luft. Widerwillig raffte er sich schließlich wieder auf und zog zweimal kurz am Seil, um zu signalisieren, dass der Nächste hochkommen konnte. Wilde tat sich noch viel schwerer; Jack musste weit nach unten greifen und ihm mit aller Gewalt über die Brüstung helfen. Hammer, der zum Schluss kam, schien dagegen kaum Schwierigkeiten zu haben.
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