Grinsend stand er auf, schloss die Augen, ließ seinen Geist zwischen den hohen Bäumen ausgreifen und gab einen tonlosen Ruf von sich. Er schlug die Augen wieder auf und wartete geduldig, bis wenige Minuten später ein heller Schatten durch die Nacht herbeischwebte. Jack streckte seinen Arm aus, auf dem sich kurz darauf eine Eule niederließ. Die Krallen drangen durch seine Lumpen, nicht aber in die Haut. Die Eule schaute ihn mit sehr ernster Miene an und Jack begegnete ihrem Blick mit seinen großen goldenen Augen. Die beiden hatten sich schnell verständigt.
Auf weit ausgestreckten Schwingen flog er durch den Wald. Die Nacht war seltsam still, und im Finstern pochte dumpf das Böse wie ein riesiges Herz. Darauf nahm er Kurs und flog zwischen schwankenden Bäumen neugierig näher. Dann schwebte er auf die Lichtung hinaus. Mondlicht blitzte um ihn auf und er verharrte flatternd in der Luft. Inmitten der Lichtung erhob sich ein Berg aus Stein und Holz die Grenzfeste.
Normalerweise wäre er an ihr als Rastplatz oder auch Brutstätte durchaus interessiert gewesen. Nicht so jetzt.
Denn dort lauerte das Böse. In der Dunkelheit öffnete sich kriechend langsam ein riesiges Auge. Die Eule machte kehrt, floh zurück in den Schutz der hohen Bäume, und Jack war wieder ganz er selbst, der Kontakt unterbrochen.
Als er den Arm hob, flatterte der Vogel auf und verschwand im Dunklen. Jack setzte eine nachdenkliche Miene auf. Als er sich selbst im Fort aufgehalten hatte, waren seine Sinne auf Grund der Nähe zur Menschenwelt wie betäubt gewesen; jetzt aber, da er sich hier draußen im Wald aufhielt, schrien seine Instinkte geradezu auf bei dem Gedanken, zum Fort zurückzukehren. Leider blieb ihm keine andere Wahl. Schulter zuckend setzte sich Jack in Bewegung und beschleunigte in einen Laufschritt, den er, wenn es drauf ankam, stundenlang beibehalten konnte. Er war schon spät dran, und Hammer wartete nicht gern. Jack schmunzelte. Es gab vieles, das Hammer an ihm, Jack, nicht leiden konnte.
Er dachte über Jonathon Hammer nach - und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Der Kerl war kalt wie eine Hundeschnauze, aber immerhin hatte er ihm das Leben gerettet, und Vogelscheuchen-Jack blieb anderen nichts schuldig. Es war sein Fehler gewesen, dass er sich nicht besser vorgesehen hatte und in eine simple Falle getappt war, eine mit Reisig abgedeckte Fallgrube. Die Gardisten hätten bestimmt kurzen Prozess mit ihm gemacht und seinen aufgespießten Kopf auf dem nächsten Markplatz als abschreckendes Beispiel zur Schau gestellt, wäre Hammer nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen.
Jack lief lautlos und wendig zwischen den dicht bei dicht stehenden Bäumen einher, von denen noch infolge des Kriegs viele tot waren und vor sich hin moderten. Jack empfand diese in den Wald geschlagene Wunde, als trüge er sie am eigenen Körper. Zu anderen Zeiten wäre er vor jedem einzelnen Baum stehen geblieben, um nach Anzeichen neuen Lebens Ausschau zu halten, doch dazu hatte er in dieser Nacht keine Zeit. Vor ihm flackerte aus der Dunkelheit ein Lichtschein auf, worauf er in einen langsameren Schritt zurückfiel. Leise pirschte er sich bis an den Rand einer Lichtung vor und ging in Kauer-Stellung. Er sah Hammer vor einem hoch auflodernden Lagerfeuer ungeduldig auf und ab schreiten und fragte sich, wie er ihm am besten beibringen sollte, was er über das Fort in Erfahrung gebracht hatte.
Jonathon Hammer war ein großer, kräftiger Mann mit beeindruckend breiten Schultern. Er war Ende dreißig, was man ihm auch ansah. Das dunkle Haar trug er kurz geschnitten und nach vorn gebürstet, wo es schon recht schütter geworden war. Obwohl sein Lächeln täuschend warmherzig wirkte, konnte seine Miene nicht verhehlen, dass er in Wahrheit kalt und rachsüchtig war. Über einem weißen Leinenhemd trug er eine einfache Lederweste, und die Beine seiner schwarzen Hose waren in die Stulpen der dreckverschmierten Stiefel gestopft. Dem Äußeren nach hätte er alles Mögliche sein können, sowohl Händler als auch Gerichtsvollzieher. Sein langes Schwert aber, das er geschultert hatte und das ihm quer über den Rücken hing, wies ihn eindeutig als den Krieger aus, der er war. Obwohl Hammer von stattlicher Größe war, ragte der Knauf des Schwertes über den Kopf hinaus, während die Spitze fast den Boden streifte. Ein längeres Schwert hatte Jack nie zuvor gesehen, und der Breite der Scheide nach zu urteilen schien es auch überaus gewichtig zu sein. Hammer aber bewegte sich so unbeschwert damit, als wäre es gar nicht da. An der Hüfte trug er noch ein zweites Schwert, das er auch hin und wieder zur Hand nahm. Das
Langschwert auf dem Rücken aber hatte ihn Jack noch nie ziehen sehen. Hammer nahm es selbst dann nicht von der Schulter, wenn er sich schlafen legte.
Hammer hatte schon als Söldner gedient, als Leibwache eines Barons und bei der königlichen Garde, war aber immer schon ehrgeiziger gewesen, als ihm gut tat. Wo er sich auch befand, früher oder später lief er aus dem Ruder, trank übermäßig viel, verführte andere zum Spiel oder schlug sich mit Offizieren, die er nicht leiden konnte. Und dann wurde er wieder auf die Straße gesetzt. Während einer seiner Reisen hatte er sein Langschwert gefunden. Unter welchen Umständen - das verriet er nie.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte er zu einer Eskorte gehört, die eine Wagenladung voller Gold zur Grenzfeste begleitet hatte. Seitdem dachte er an nichts anderes mehr. Mit einer solchen Menge Gold würde er ein eigenes Söldnerheer ausheben und das Hagreich im Sturm erobern können. König Jonathon der Erste… Jack grinste.
Hammer hatte immer schon hoch hinaus gewollt. Kaum war das Gold im Fort abgeliefert und sicher deponiert, hatte er sich aus dem Staub gemacht, lebte seitdem im Unterholz und strickte an einem Plan, wie er sich das Gold beschaffen konnte. Doch in jener Nacht schien im Fort etwas vorgefallen zu sein, das er nicht vorhergesehen hatte.
Hammer hatte am Waldrand gestanden und grauenvolle Schreie gehört, aber nicht den Mumm gehabt, auf eigene Faust nachzusehen, was da passiert war. Während der nächsten Tage hatte er lediglich Ausschau gehalten, doch im Fort war kein einziges Lebenszeichen zu erkennen gewesen. Es dauerte eine Weile, bis er Wilde, den Bogenschützen, ausfindig gemacht hatte und Vogelscheuchen-Jack für sich gewinnen konnte. Doch diese Zeit war gut genutzt, wie er fand. Mit diesen beiden Burschen an seiner Seite würde er bestimmt Erfolg haben.
Dumm nur, dass die Ranger eher im Fort waren.
Jack hockte im Schatten am Rande der Lichtung, auf der Hammer und Wilde lagerten. Jede Verzögerung war gefährlich. Je später er sich zurückmeldete, desto mehr würde Hammer ihn dafür büßen lassen. Dennoch zögerte Jack. Er brauchte Zeit, um über die beiden Kerle nachzudenken, denen er sich als Verbündeter angeschlossen hatte. Hammer, ihm schuldete er etwas. Aber Wilde…
Edmond Wilde saß auf der anderen Seite des Feuers und nagte gierig an einem Hühnerknochen. Er war groß und hager, ging auf die dreißig zu und trug schäbige schwarze Klamotten. In dem schmalen Gesicht standen die dunklen Augen eng beieinander, und im Dunklen sah er aus wie ein unglücklicher Geier. Die schwarzen Haare waren lang und fettig. Ständig fielen ihm einzelne Strähnen ins Gesicht, die er dann mit einem hektischen Kopfschlenker zurückwarf. Insgesamt bewegte er sich verstohlen und unbeholfen, als fürchtete er, auf sich aufmerksam zu machen. Wenn er aber einen Bogen oder ein Schwert in der Hand hielt, schien er wie ausgewechselt. Dann richtete er sich kerzengerade auf, seine Augen glänzten hellwach, und er strahlte etwas aus, das Angst machte. Als Bogenschütze war Wilde fast so gut, wie er sich selbst sah, das heißt, er war meisterhaft.
Der Bogen lag neben ihm auf dem Boden, entspannt, um die Sehne zu schonen. Es war ein Langbogen von über zwei Metern Länge. Jack hatte ihn einmal heimlich zu spannen versucht und all seine Kraft aufbringen müssen, um die Wurfarme zu biegen. Da Wilde nicht gerade athletisch war, vermutete Jack, dass es einen besonderen Trick geben musste, mit dem sich der Bogen leichter spannen ließ. Er hätte Wilde gern danach gefragt, doch Wilde war jemand, den man nur in Ausnahmefällen etwas fragte. Als Hammer ihn aufgegriffen hatte, war er auf der Flucht gewesen, hatte aber nie erklärt, wovor. In Anbetracht seiner Vorlieben und Einstellungen vermutete Jack, dass er wahrscheinlich wegen Mordes oder Vergewaltigung gesucht worden war. Oder sowohl als auch.
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