Der Bogenschütze verlor kein einziges Wort über seine Herkunft, aber seine Kleider, obwohl abgetragen und dreckig, schienen ursprünglich von sehr guter Qualität gewesen zu sein. Seine Sprache war durchweg grob und vulgär, und doch ließ er manchmal einen gehobenen Ton anklingen. Was allerdings kaum etwas besagte. Im Hinblick auf Wilde wusste Jack nur eines: dass er ein Schwein war, durch und durch. Solange sich Hammer in Hörweite aufhielt, sang Wilde das Hohe Lied der Treue auf ihn. Seine Loyalität aber glich eher der eines hungrigen Wiesels. Hammer führte ihn an einer Kandare aus Schrecken und Brutalität, was Wilde für selbstverständlich zu halten schien. Jack grinste grimmig. Auch er war der Meinung, dass Wilde keinen Fehler hatte, der sich nicht mit einem Galgenstrick aus der Welt bringen ließe. Er war ein mieser, heuchlerischer, hinterhältiger Hund, ekelhaft, wenn betrunken, unerträglich, wenn nüchtern. Er würde einem Bettler die Pfennige aus dem Hut nehmen und sich dann auch noch darüber beklagen, dass es nur Pfennige seien. Wie auch immer, er war ein meisterhafter Bogenschütze, der Hammer dienlich sein konnte, und darum blieb er.
Jack seufzte wieder. Dass er sich ausgerechnet diesem Jonathon Hammer gegenüber verpflichtet fühlen musste!
Achselzuckend richtete er sich auf und tappte leise auf die Lichtung hinaus.
Wilde zuckte aufgeschreckt zusammen, sprang auf und griff nach seinem Schwert. Als er sah, wer da kam, setzte er sich mit verärgerter Miene wieder ans Feuer.
»Der edle Wilde ist zurück«, sagte er zu Hammer.
Hammer achtete nicht auf dessen Geknurre. Er war völlig ungerührt geblieben von Jacks dramatischem Auftritt und bedachte ihn nun mit kühlem Blick. »Du hast dir viel Zeit gelassen«, sagte er.
»Es ist ein großes Fort«, antwortete Jack. »Ich habe überall nachgesehen, aber nirgends eine Spur von dem Gold entdeckt. Da gibt es zwar keine einzige Leiche mehr, dafür aber jede Menge Blut. Ich hab mir auch ein Bild von den Rangern machen können, die sich zurzeit dort aufhalten. Sie haben mich dann entdeckt, und ich musste machen, dass ich fortkam.«
Hammer krauste die Stirn. »Haben sie dich erkannt?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht.«
»Das war unachtsam von dir«, sagte Hammer. »Sehr unachtsam.«
Er stand gemächlich auf und schlug mit dem Handrücken so wuchtig zu, dass Jack auf dem Boden landete. Er hatte den Schlag zwar kommen sehen, aber nicht mehr rechtzeitig in Deckung gehen können. Hammer war für seine Größe ausgesprochen schnell. Jack wich kriechend ein Stück zurück, ohne Hammer aus den Augen zu lassen. Er spürte, dass ihm aus dem linken Nasenloch Blut tropfte, wischte mit der Hand darüber und sah auf den Knöcheln roten Schmier. Wilde kicherte schadenfroh. Jack nahm keine Notiz von ihm und stand langsam vom Boden auf. Er überging die Schmerzen im Gesicht und gab keinen Laut von sich. Jedes Wort wäre ohnehin überflüssig gewesen. Sobald er seine Schuld bei Hammer abgetragen und ihm geholfen haben würde, das Gold zu beschaffen, würde er sich schneller in den Wald verzogen haben, als Hammer mit der Wimper zucken konnte.
Hammer nahm wieder vor dem Feuer Platz. Nach einer Weile setzte sich Jack ihm gegenüber.
»Was hast du auskundschaften können?«, fragte Hammer mit ruhiger Stimme, gerade so, als hätte es den Gewaltausbruch vorhin gar nicht gegeben.
»Rein- und wieder rauszukommen ist kein Problem«, antwortete Jack und betupfte die Nase vorsichtig mit dem Ärmel. »Bewacht wird das Fort von vier Rangern, die aber nicht mal eine anständige Wache auf die Beine kriegen. Ich bin sicher, auch sie wissen nicht, wo das Gold steckt.«
»Vielleicht doch. Vielleicht haben sie's so gut versteckt, dass sie's mit der Wache nicht mehr so genau nehmen müssen«, überlegte Wilde.
»Ich habe mich überall gründlich umgesehen«, entgegnete Jack, der nach wie vor nur Hammer im Auge hatte.
»Da ist kein Gold.«
»Also nur vier Männer«, murmelte Hammer nachdenklich.
»Zwei Männer und zwei Frauen«, korrigierte Jack. »Die eine der beiden Frauen ist eine Hexe.«
Wilde rutschte beunruhigt hin und her. »Eine Hexe. Das gefällt mir nicht.«
»Hexen sind nicht weniger verwundbar als andere«, sagte Hammer. »Oder weißt du nicht mehr mit deinem Bogen umzugehen?«
Wilde grinste müde. Er nahm seinen Bogen zur Hand und hatte ihn mit einem schnellen, geschickten Handgriff gespannt. Dann zog er einen Pfeil aus dem Köcher, der neben ihm lag, legte ihn an die Sehne, und sah sich in aller Gelassenheit nach einem Ziel in der Dunkelheit jenseits des Feuerscheins um. Schließlich zog er die Sehne zurück, zielte und ließ den Pfeil fliegen - alles in einer einzigen fließenden Bewegung, die so schnell war, dass man ihr mit den Augen nicht folgen konnte. Gleich darauf fiel, von Wildes Pfeil durchbohrt, eine Eule vom Himmel. Sie zuckte noch ein wenig und verströmte Blut aus der schneeweißen Brust. Wie ein Blitz war Jack zur Stelle und ging vor dem Vogel, der scheinbar vorwurfsvoll zu ihm aufblickte in die Knie.
»Du hättest mir nicht folgen dürfen, mein Freund«, flüsterte Jack. »Ich bin in letzter Zeit in schlechter Gesellschaft.«
Dann brach er den Pfeil entzwei und zog ihn so vorsichtig wie möglich aus dem Vogelleib. Die Eule gab einen kläglichen Laut von sich. Jack legte seine linke Handfläche auf die blutende Wunde und schloss die Augen. Sein Geist griff weit aus, und die Bäume verliehen ihm Kraft. Er nahm diese Kraft auf und gab sie an den Vogel weiter, der sofort zu bluten aufhörte.
Bald war auch die Wunde verheilt und verschwunden. Jack öffnete die Augen und setzte sich zurück auf die Hacken. Das Zaubern erschöpfte ihn immer sehr. Die Eule rappelte sich auf. Anfangs stand sie noch unsicher auf den Beinen, anscheinend irritiert darüber, nun doch nicht sterben zu müssen. Dann warf sie Jack einen strengen Blick zu, breitete die Flügel aus und flog in den ihr vertrauten Nachthimmel auf.
Jack nahm eine Bewegung im Rücken wahr und wirbelte mit gezücktem Messer herum. Wilde hatte einen zweiten Pfeil aufgelegt, den er der Eule hinterherschicken wollte, zögerte aber, als er Jack sah.
»Nur zu«, sagte Jack. »Versuch's. Vielleicht hast du ja Glück.«
Wilde war sichtlich verunsichert. »Du wirst dich doch wohl nicht wegen einer verfluchten Eule an mir vergreifen wollen.«
»Meinst du?«
Wilde spürte plötzlich einen kalten Schauer über den Rücken rieseln. Zwar konnte ihm, dem Meisterschützen, ein Mann mit einem Messer kaum gefährlich werden, doch diese Vogelscheuche wusste die Kraft der Bäume für sich zu nutzen, und Wilde wähnte unzählige Augen auf sich gerichtet - die Augen des Waldes. Der Wind flüsterte in den Zweigen der Bäume am Rand der Lichtung, und ihm war, als hörte er warnende Stimmen.
»Es reicht«, sagte Hammer. Der Bann war gebrochen. Wilde atmete erleichtert auf. Er legte den Bogen ab und steckte den Pfeil zurück in den Köcher, worauf Jack sein Messer im Ärmel verschwinden ließ. Hammer nickte. »Packt eure Sachen zusammen«, sagte er. »Wir gehen zurück zum Fort.«
»Jetzt?«, stöhnte Wilde. »Mitten in der Nacht?« »Was ist los?«, fragte Jack. »Angst vorm Dunkeln?« Wilde warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Ich dachte eher an die Ranger. Deinetwegen dürften sie jetzt auf der Hut sein.«
»Sie werden nicht damit rechnen, dass wir schon heute Nacht wieder auftauchen«, sagte Hammer. »Wir können's uns nicht leisten, noch lange zu warten. Wenn alles nach Plan läuft, wird in wenigen Tagen Verstärkung eintreffen, und das heißt, wir hätten's dann mit einem ganzen Bataillon Gardisten zu tun. Wir sollten also das Gold - ich würde sagen, in spätestens vierundzwanzig Stunden - eingesackt und die Gegend verlassen haben. Es sei denn, wir vergessen die ganze Sache. Jack, wie wird das Wetter?«
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