»Wir werden ihnen wieder Mut machen! Heute Nachmittag will ich Liodred beerdigen. Und dann möchte ich zu ihnen sprechen. Bitte steh an meiner Seite. Ich bin mir sicher, sie verehren dich noch immer, Gishild.«
»Ich werde nie mehr an irgendjemandes Seite stehen!« Die Königin schlug die Decke zurück, und Mandred sah zwei rot entzündete, mit schwarzem Pech beschmierte Stümpfe. Man hatte ihr dicht über den Knöcheln die Füße amputiert.
»Ich will keine Worte des Mitleids. Dies ist nichts! Auf dem Habichtpass ist mir mein kleiner Sohn auf dem Arm erfroren. Ich konnte ihm nicht genug Wärme geben …« Sie stockte. »Ein Paar erfrorene Füße sind nichts gegen diesen Schmerz. Ich … Ich will in kein offenes Grab mehr blicken, Ahnherr. Ich selbst bin ein offenes Grab. Und damit bin ich ein Spiegel deines Volkes.«
Fassungslos starrte er auf die verstümmelten Beine. »Du hättest die Elfen um Hilfe bitten können. Ihre Zauber sind mächtig. Sie hätten …«
»Hätte ich einen ihrer Heiler vom Lager eines kranken Kindes fortrufen sollen? Wir haben mehr Elend mit nach Albenmark gebracht, als ihre Zauberkraft zu tilgen vermag.«
Mandred fühlte sich ohnmächtig. Was sollte er dieser verbitterten Frau noch sagen? Worte der Hoffnung mussten wie Hohn in ihren Ohren klingen. Wäre er doch nur früher zurückgekehrt! Er verneigte sich. »Mit deiner Erlaubnis werde ich mich zurückziehen und das Begräbnis König Liodreds vorbereiten.«
»Warte noch, Ahnherr!« Sie winkte ihm, näher zu treten. »Knie neben mir nieder.«
Verwundert gehorchte er.
Gishild senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ich habe gehört, wie du zu Beorn gesprochen hast. Seit dem Tag auf dem Habichtpass war er ein gebrochener Mann. Du hast ihm seinen Mut zurückgegeben. Nimm die Rüstung des Alfadas und lege sie an, wenn du am Grab von Liodred zu deinem Volk sprichst. Vielleicht vermagst du in der Asche der Trauer noch einmal einen Funken der Hoffnung zu entzünden. Mir ist diese Kraft nicht gegeben, Mandred Torgridson. Doch ich weiß, dass manche selbst jetzt noch auf die Rückkehr des lebenden Ahnherrn hoffen. Sprich zu ihnen. Du hast Recht … Es darf nicht sein, dass nach all den Jahrhunderten der Freundschaft in der letzten Schlacht nicht mehr das Banner von Firnstayn an der Seite der Elfen weht. Behüte unser Volk vor dieser Schande.«
Zwei Schwerter und Erinnerungen
Nuramon war in der Kammer der Gaomee. Die Königin hatte ihm diese ein letztes Mal zur Verfügung gestellt. Und es hatte ihn zutiefst überrascht, ein Abbild seiner selbst an der Wand zu finden. Zwar hatte man jedem, der in dieser Kammer die Nacht vor der Elfenjagd verbracht hatte, eine Szene in dem umlaufenden Fries gewidmet, doch Nuramon war nicht darauf vorbereitet gewesen, sein eigenes Antlitz an der Wand zu erblicken. Was ihn vor allem wunderte, war die Art und Weise, wie er abgebildet war: Er stand da, hielt seine beiden Schwerter in Händen und drohte einem Schatten, der einen goldenen Edelstein umhüllte; dies war der Devanthar mit seinem Albenstein. Entweder war dieses Gemälde irgendwann nach der Seeschlacht entstanden, oder der Blick der Königin hatte weit in die Zukunft gereicht.
Nuramon musterte die Gesichtszüge seines Abbilds. Es waren die eines mutigen Elfen, der jeder Gefahr gewachsen schien, dabei aber nicht grimmig wirkte. Dieser Elf wäre gewiss ein guter Anführer. Die Frage war nur, ob Nuramon morgen diesem Abbild gerecht werden konnte. Der heutige Tag ließ nicht so recht darauf schließen. Er war anstrengend gewesen, besonders weil sein Gedächtnis immer noch verworren war.
Er hatte viel Verantwortung an Nomja übertragen. Und dabei hatte er die Bogenschützin noch nicht einmal gesehen, sondern sich nur über Boten mit ihr ausgetauscht. Sie befand sich im Heerlager an der rechten Flanke, gut fünf Wegstunden von Emerelles Burg entfernt. Sie und Wengalf hatten über die Aufstellung der Krieger gesprochen, und Nuramon hatte alles in ihre Hände gelegt.
Statt zu befehligen, hatte er hier in der Kammer gesessen und nachgedacht. Seine Sippe hatte ihn besucht, um ihn auszustatten; auf seinen Wunsch hin hatten sie ihm eine Plattenrüstung überlassen, die der Drachenrüstung der Gaomee nachempfunden war. Bald darauf hatte er sie verabschiedet, wohl auch deshalb, weil niemand mehr da war, den er von früher kannte. Der alte Elemon war längst ins Mondlicht gegangen, und selbst die Jüngeren wie Diama waren lange fort. Unter ihren Nachkommen war Nuramon zur Legende geworden. Welch eine Enttäuschung würden sie morgen erleben, wenn der große Nuramon, der mit seinen Gefährten einen Devanthar besiegt hatte, wie ein ganz gewöhnlicher Elf in die Schlacht reiten und nichts ihn über andere erheben würde!
Er musste lachen. Damals, als er zum ersten Mal in dieser Kammer gewesen war, hatte ihn die Abneigung seiner Sippe gequält. Und nun war es ihm unangenehm, dass sie ihm mit Ehrfurcht und Anerkennung begegneten? Das konnte doch nicht wahr sein! Seine Erinnerung sagte ihm, dass ihm Anerkennung keineswegs fremd war. Er hatte sie schon früher erfahren, besonders bei den Zwergen. Aber das war in einem anderen Leben gewesen …
Ganz allmählich ordneten sich seine Erinnerungen; nicht mehr lange, und er würde die Steinchen des Mosaiks zusammensetzen können. Im Augenblick gab es einfach zu viel, das es zu verstehen galt. So entsann er sich daran, einst eine Elfe namens Ulema geliebt zu haben. Aus dieser Liebe war ein Kind hervorgegangen, das sie Weldaron genannt hatten. Dies war der Name seines Sippenbegründers. Sollte er, Nuramon, gar der Vater von Weldaron sein? Das konnte er nicht glauben.
Auch verwirrten ihn all die Gefühle, die er einst für Emerelle gehegt hatte, die diese aber nie hatte erwidern können. Gewiss, viele Elfen sahen Emerelle und träumten insgeheim von ihrer Liebe. Es gab keine Frau, über die es mehr Liebesgedichte und Minnelieder gab, als die Elfenkönigin …
Das Geräusch von Schritten vor der Tür rief in ihm die Erinnerung an die Nacht vor dem Auszug der Elfenjagd wach. Nuramon wandte sich um; er ahnte, wer da zu ihm kam. Und als sich die Tür öffnete und er Emerelle erblickte, wusste er, dass er sich nicht getäuscht hatte. Die Königin war zu ihm gekommen, wie in jener Nacht, in der für ihn alles begonnen hatte. Wie damals trug sie das graue Gewand einer Zauberin, und ihr dunkelblondes Haar wellte sich sanft über ihre Schultern. Er blickte in ihre hellbraunen Augen und fand auch dort den Glanz jener längst vergangenen Nacht.
Sie schloss die Tür hinter sich und lächelte ihm entgegen, als wartete sie auf eine Regung seinerseits.
»Emerelle«, sagte er und blickte sie lange an. »Es ist kein Zufall, dass du zu mir kommst, oder?«
»Nein. Nichts, was wir sagen oder tun, ist Zufall. Hier schließt sich der Kreis, Nuramon, Vater des Weldaron und Sohn der Valimee und des Deramon.«
Als die Königin die Namen seiner ersten Eltern nannte, kehrte die Erinnerung an sie zurück. Sein Vater war ein Krieger gewesen, seine Mutter eine Zauberin. Sie waren früh ins Mondlicht gegangen, doch sie hatten ihn geliebt, wie nur die ersten Albenkinder ihre Söhne und Töchter geliebt hatten. »So alt bin ich?«, fragte er.
Die Königin nickte. »Ich wusste seit langem, dass dir eines Tages ein bedeutendes Schicksal zukommen würde. Du warst damals einer meiner Kampfgefährten. Wir haben uns in Ischemon kennen gelernt, im Kampf gegen die Sonnendrachen. Damals gab es noch keine Königin. Ich war noch auf der Suche nach meiner Bestimmung, und wir gingen gemeinsam zum Orakel Telmareen. Was sie sagte, das weißt du.«
Nuramon erinnerte sich an alles, wovon die Königin sprach. Ihre Worte waren wie Zauberformeln, die ihm Vers um Vers das Gedächtnis ordneten und all die Empfindungen von einst zurückbrachten. Selbst die Lichtgestalt des Orakels hatte er plötzlich wieder vor Augen, und ihre Stimme hallte nach so langer Zeit noch in seinen Ohren: _Wähle dir deine Verwandtschaft! Kümmere dich nicht um dein Ansehen! Denn alles, was du bist, das ist in dir_.
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