Für einen Moment verlor sie das Bewußtsein, denn das nächste, was sie spürte, war der Griff kalter, unmenschlich starker Hände, die sich fast behutsam unter ihren Körper schoben, sie wie ein Spielzeug in die Höhe hoben und ein Stückweit von der unruhig stampfenden Hornbestie forttrugen. Behutsam wurde sie in den Sand gelegt. Sie wollte etwas sagen, aber sie konnte es nicht: ihre Kehle war voller Sand. Sie hustete, drehte sich auf die Seite, als sie glaubte, sich erbrechen zu müssen, würgte aber nur ein paarmal trocken und krümmte sich im Sand. Ihr ganzer Körper war ein einziger, zuckender Schmerz. Ihre Hände waren von den beinharten Sattelriemen zerschnitten und von Essks kaum weniger harten Pranken gequetscht, die Haut an ihren Unterarmen war aufgerissen und blutig, wo sie an den Panzerplatten der Hornbestie entlanggescheuert war. Blut lief an ihren Armen herab und vermischte sich mit dem Schweiß und Schmutz auf ihrer Haut. Ihre Muskeln waren verkrampft und so hart, daß sie abermals vor Schmerz aufschrie, als sie versuchte, sich noch einmal zu bewegen.
»Ssstill. Isss hhhelfe Eusss«, zischelte eine Stimme an ihrem Ohr. Sie sah auf, blinzelte durch einen Schleier rosagefärbter Tränen und erkannte Hrhons flaches, dunkelgrün geschupptes Gesicht, das ausdruckslos auf sie herabblickte.
Tally raffte all ihre Kraft zusammen, versuchte sich in die Höhe zu stemmen und kam tatsächlich in eine halbwegs sitzende Position – freilich nur, um gleich darauf in Hrhons Arme zu sinken, der sie auffing, als sie zur Seite kippte. »Du verdammter... Idiot«, flüsterte sie mühsam. »Wegen deiner Dummheit wäre ich fast gestorben. Geh mir... aus den Augen. Verschwinde, du... hirnloses Flachgesicht.«
Natürlich verschwand Hrhon nicht. Aber er löste behutsam die Hände von ihren Schultern, ließ sie zurücksinken und schaufelte nach kurzem überlegen ein paar Handvoll Sand unter ihren Kopf, damit sie bequemer lag. Ein gigantischer Schatten wuchs über ihr auf, dann hörte sie, wie Essk dem Horntier einen scharfen Befehl zuschrie und die wenigen Riemen, die sie noch hielten, schlichtweg entzweiriß, um von seinem Rücken zu springen.
Hrhon hielt seine Gefährtin mit einem schrillen Zuruf zurück, deutete nach Westen und gestikulierte mit beiden Händen, wobei er einen Schwall heller, zischelnder Töne hören ließ, die er für eine Sprache halten mochte. Essk antwortete im gleichen Dialekt, und plötzlich wurde Hrhons Stimme scharf und laut und befehlend.
Tally hatte Mühe, nicht schon wieder das Bewußtsein zu verlieren. Im gleichen Maße, in dem die Schmerzen in ihren Händen und Armen abklangen, begannen ihre Beine zu schmerzen; zuerst nur die Füße, dann, einer rasch weiter vorrückenden flammenden Linie folgend, die Waden und bis hinauf über die Knie. »Was... ist mit dem Sturm?« fragte sie mühsam. »Ist er vorbei?« Hrhon versuchte ein menschliches Kopfschütteln nachzuahmen; etwas, was ihm nur teilweise gelang, weil er keinen Hals hatte, den er hätte drehen können.
»Nhein«, zischelte er. »Er khommt sssurück. Esss issst nhur eine Phausssse. Whir sssind in Ghefahrrr.«
»Dann müssen wir... weiter«, stöhnte Tally mit zusammengebissenen Zähnen. »Der... Turm, Hrhon. Schnell. Hilf mir auf... auf das Horntier!«
Aber wieder schüttelte der Waga nur Kopf und Schultern. »Kheine Ssseit mehrrr«, sagte er. »Esss issst nuhrrr eine Athempaussse. Der Sssturm wird kommen.
Sssehrrr ssslimm.«
Er wiederholte dieses absurde Kopf- und Schulterschütteln, stand auf und fauchte einen Befehl, der Essk galt. Seine Gefährtin widersprach, aber Hrhon deutete wütend nach Westen und wiederholte seinen Befehl, und diesmal widersprach die Waga nicht mehr. Mit einem schrillen Schrei zwang sie das Horntier, auf der Stelle kehrt zu machen, und ritt zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Tally stöhnte vor Schmerz, als Hrhon sie vorsichtig aufhob und hinter dem stachelbewehrten Giganten herzustapfen begann. »Was hast du vor, du Narr?« keuchte sie. »Du läufst ja geradewegs auf den Sturm zu! Willst du uns umbringen?«
Hrhon antwortete nicht, sondern verdoppelte seine Anstrengungen nur noch, und er entwickelte dabei auf seinen kurzen Beinen sogar ein erstaunliches Tempo. Tally drehte mühsam den Kopf und versuchte Essk und ihr Reittier in der brodelnden Schwärze vor ihnen auszumachen, aber ihre Lider schienen mit einem Male mit Blei gefüllt und fielen immer wieder zu, und irgend etwas stimmte nicht mit ihrem Sehvermögen: sie sah nur noch schemenhaft, dafür hatten alle Dinge einen schwach leuchtenden Schatten, der ihre Konturen nachzeichnete. Aber sie erkannte zumindest, daß die Waga die Hornbestie geradewegs auf Hrhons Reittier zutrieb, das mit gebrochenem Genick dalag. Das Tier scheute, als spüre es die Gefahr, auf die es zulief, aber Essk hatte es jetzt wieder völlig unter Kontrolle. Schon nach Augenblicken erreichten sie den Kadaver des stacheligen Giganten und hielten an. Essk begann schrille pfeifende Töne auszustoßen, und die Hornbestie lief ein paar Schritte rückwärts, dann wieder vor, zur Seite, wieder zurück und wieder fort. Tally begriff nicht, was Essk dort tat. Es sah aus, als führten Waga und Horntier einen bizarren, aberwitzigen Tanz auf.
Und dann hob Essk den Arm, sehr hoch und mit einer Bewegung, in der die ganze ungeheuerliche Kraft ihrer vierhundert Pfund lag. Metall blitzte in ihrer Faust. Die Waga stieß der Hornbestie den Dolch genau in die empfindliche Stelle zwischen ihren Augenhörnern, der einzigen Stelle überhaupt, an der ein Horntier verwundbar war. Das Ungeheuer brüllte, schleuderte Essk mit einem gewaltigen Zucken von seinem Rücken und in den Sand – und sank tot zu Boden. Sein droschkengroßer Schädel krachte mit einem eigentümlich hohl klingenden Laut auf den Schwanz von Hrhons Tier.
Und endlich begriff Tally, was der sonderbare Tanz bedeutete, zu dem Essk ihr Tier gezwungen hatte: die beiden toten Ungeheuer lagen nicht einfach nur tot nebeneinander, sondern genau so, daß sie mit ihren Körpern einen gewaltigen Halbkreis bildeten, dessen geschlossene Seite der schwarzen Wand zugewandt war, die die Welt verschlungen hatte.
Als sie diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, heulte der Sturm wieder los. Und Hrhon begann zu rennen.
Irgendwann in der Nacht erwachte Tally für einen Augenblick. Sie hatte geträumt, etwas Entsetzliches, unbeschreiblich Grauenhaftes, aber sie erinnerte sich nicht, was. Trotzdem sah sie für einen Moment graue Spinnfäden und dunkle, widerliche Körper auf zu vielen Beinen, die über ihre Haut huschten. Sie hatte Angst. Der Sturm heulte noch immer mit ungebrochener Wucht und ließ die Wüste erzittern, und selbst durch die geschlossenen Lider hindurch sah sie die blauweißen dünnen Blitze, die seinen schwarzen Riesenleib durchzuckten, und den dünnen sichelförmigen Kranz aus rotglühendem Horn, der sie und die beiden Wagas schützte.
Sie hatte entsetzlichen Durst, aber ihr fehlte selbst die Kraft, sich mit der Zunge über die Lippen zu fahren, und sie wachte auch nicht wirklich auf. Es war, als gestatte ihr der Traum – der kein wirklicher Traum, sondern ein unbegreiflicher Teil der düsteren Magie des Turmes war – nur eine kleine Erholungspause. Vielleicht benötigte er auch einfach diese Zeit, ihre Erinnerungen zu sondieren und das Wichtigste herauszufiltern, denn wie immer erinnerte sie sich längst nicht an alles, was in jener Nacht vor fünfzehn Jahren geschehen war.
Die Kraft, die sie immer wieder zwang, jenen entsetzlichen Tag aufs Neue zu erleben, sorgte dafür, daß der Schrecken geballt kam. In dem Kaleidoskop des Terrars, in das sie der Sandsturm geschleudert hatte, waren nur die schlimmsten Facetten vorhanden. Der unsichtbare Folterknecht in ihrem Geist würde nicht gestatten, daß sie sich durch die Erinnerung an endlose Stunden der Ruhe erholte; denn das Schicksal hatte an jenem Tag noch weit mehr für sie bereit gehalten – unter anderem die Erkenntnis, daß es eine Grenze für Dinge wie Entsetzen und Furcht nicht gab, sondern eine Steigerung immer möglich war.
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