Dann schlief sie wieder ein. Und sie träumte weiter; Träume von grauen Spinnfäden und gewaltigen ledernen Schwingen, die die Nacht peitschten, von einem Sturm, der sich zu einer entsetzlichen Grimasse formte und sie verhöhnte, von Hraban, dessen Augen plötzlich groß und rund wurden und aus dessen Mund Blut kam.
Dann erwachte sie wirklich, und diesmal war es ein sehr langsamer, unendlich qualvoller Vorgang, nicht nur von peinigenden Visionen, sondern auch von durchaus realen körperlichen Schmerzen begleitet.
Zurück in der Gegenwart, war sie sich trotzdem im ersten Moment nicht sicher, ob sie nun wirklich erwacht war, oder ob sie nur eine besonders perfide Fortsetzung des Alptraumes erlebte. Ihr ganzer Körper war ein einziger, brennender Schmerz, und sie hatte ganz entsetzlichen Durst. Düstere Farben bewegten sich vor ihren Augen. Jemand hatte einen Dolch in ihre Beine getrieben und drehte ihn ganz langsam und mit großem Genuß herum.
Dann berührte eine Hand ihre Schulter, eine Hand, die so hart und kalt war wie Stahl, und in den wogenden Schleiern vor ihren Augen tauchte das Gesicht der häßlichsten Schildkröte auf, die jemals geboren war. Übrigens auch der größten. Sie erkannte Essk.
»Durst«, murmelte sie. Schon diese kleine Bewegung reichte, ihre Lippen aufplatzen zu lassen. Warmes Blut lief an ihrem Kinn herab. Sie hob die Hand, um es fortzuwischen, aber die Waga drückte ihren Arm mit sanfter Gewalt herunter, gab einen unidentifizierbaren Zischlaut von sich und hob Tallys Kopf und Oberkörper an. Eine Schale wurde an ihre Lippen gesetzt, und sie schmeckte köstliches, eiskaltes Wasser.
Sie trank so gierig, daß ihr übel wurde. Danach gönnte sie sich den Luxus, für endlose Augenblicke einfach mit geschlossenen Augen in Essks Arm zu liegen und beinahe gierig auf jede Regung ihres Körpers zu lauschen. Ihr Magen und jedes einzelne Organ in seiner Nähe revoltierte, und ihre Beine brannten noch immer wie Feuer, aber nach (Minuten? Stunden? Tagen?) einer Ewigkeit, in der sie keinen Körper gehabt hatte, sondern hilflose Gefangene ihrer eigenen, quälenden Erinnerungen gewesen war, genoß sie dies alles beinahe.
Das Schlimme an den Träumen war, daß sie ganz genau wußte, daß sie träumte; in jeder einzelnen Sekunde. Und daß sie auch wußte, was kommen würde. Und hilflos dagegen war. Hraban hatte es ihr einmal erklärt, vor sehr langer Zeit: Nach dem Wahnsinn und den tötenden Schatten und den Werwesen war dies die stärkste Waffe des Turmes. Er tötet dich mit deinen eigenen Erinnerungen. So mancher, der alle Fallen und Hindernisse überwunden hatte, war als sabbernder Idiot zurückgekehrt, zerbrochen an den Schrecken, die ihm sein eigenes Unterbewußtsein beschert hatte. Die Wüste war voll mit ihren Skeletten.
Ihre Hand glitt wie von selbst zwischen ihre Brüste und tastete nach dem blutfarbenen Stein. Er war nicht mehr da.
Tally fuhr mit einem erschrockenen Laut hoch und brach in Essks Armen zusammen, als ihr prompt schwindelig wurde und der Schmerz in ihren Beinen zu neuer, lodernder Glut erwachte.
»Gansss ruhig«, zischelte die Waga. »Ihr ssseid in Sssicherheit.«
Tally schlug ihre Arme beiseite und fiel unsanft auf die Seite. Aber sie ignorierte den Schmerz – wenigstens versuchte sie es – und stemmte sich sofort wieder hoch.
»Wo ist... mein Stein, du blödes Krötengesicht?« preßte sie zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor.
Essk blickte sie einen Moment lang mit dem einzigen Ausdruck an, zu dem sie fähig war – nämlich keinem – dann wandte sie sich um und verschwand schlurfend in der Dunkelheit, während Tally mit einem nur halb unterdrückten Schmerzlaut vollends zurücksank, sich aber schon nach Sekunden abermals in eine halb sitzende, halb liegende Stellung hochstemmte und an sich hinuntersah.
Der Stein war nicht das einzige, was verschwunden war. Die Waga hatte sie vollkommen entkleidet, während sie bewußtlos gewesen war – was allerdings nicht hieß, daß sie nackt gewesen wäre. Ihre Haut war zu mehr als zwei Dritteln von sauber gewickelten, weißen Verbänden bedeckt, unter denen hier und da eine grüngraue, übelriechende Salbe hervorquoll. Bis zu den Knien hinauf waren die Verbände so dick, daß es aussah, als trüge sie Stiefel, und sie spürte erst jetzt, daß sich auch um ihren Kopf etwas Kühles, sehr Festes spannte. Sie sah aus wie eine Mumie, die man vergessen hatte einzugraben, dachte sie zornig.
Und das war lange nicht alles, was sich verändert hatte. Ihr Verstand schien länger als ihr Körper zu brauchen, um wach zu werden, denn sie bemerkte erst jetzt, daß sie nicht auf Sand oder einer Decke, sondern auf hartem Stein lag, und daß die Dunkelheit, die sie einhüllte, gemauert war, nicht das lichtfressende Schwarz des Sturmes. Und daß es sehr ruhig war. Das unerträgliche Heulen und Wimmern war verstummt, und um sie herum herrschte jene hallende Stille, die das Innere eines großen Gebäudes oder einer Höhle verriet. Wo, beim Schlund, war sie?
Essk kam zurück, begleitet von Hrhon, dessen Arme mit Kleidern beladen waren. In seiner rechten Hand glitzerte das kleine Goldkettchen mit ihrem Stein. Tally richtete sich auf, riß die Kette an sich und streifte sie hastig über. Sie bezahlte die Bewegung mit einer neuen Welle brennender Schmerzen, die ihr diesmal sogar die Tränen in die Augen zwang, aber allein der Gedanke, ohne den Stein auch nur in der Nähe des Turmes zu sein, trieb sie vor Entsetzen fast in den Wahnsinn.
»Was fällt euch ein, ihr Narren?« stöhnte sie. »Ich lasse euch in euren Schalen kochen, wenn ihr den Stein auch nur noch einmal anrührt!«
»Verssseiht, Herrin«, sagte Hrhon kleinlaut. »Aber ihr wahrrrt sssehr krank. Wir musssten euch fffflegen.«
»So?« murmelte Tally. »Mußtet ihr das?« Sie richtete sich auf – sehr vorsichtig – verbarg für einen Moment das Gesicht in den Händen und wischte sich unauffällig die Tränen fort, als sie die Finger herunternahm. »Aber wer hat euch erlaubt, mir den St-«
Sie verstummte mitten im Wort, als ihr Blick auf die Kleider fiel, die Hrhon gebracht und neben ihr abgelegt hatte. Verwirrt blickte sie den Waga an, stützte sich mit der linken Hand auf und griff mit der anderen nach den Kleidungsstücken: Hemd und Hose aus dunkelbraunem, sehr kunstvoll gegerbtem Leder, dazu passende Stiefel und ein etwas zu breiter, mit schimmernden Pailletten besetzter Gürtel, an dem eine gutbestückte Schwertscheide hing. Es waren sehr gute, kostbare Kleider, die eines Königs oder Fürsten würdig gewesen wären. Und es waren ganz entschieden nicht ihre Kleider.
»Woher habt ihr das?« fragte sie verwirrt. »Und wo... wo sind wir hier überhaupt?« Plötzlich erschrak sie; sehr heftig, als sie zum zweiten Mal begriff, daß sie nicht mehr im Schutz der toten Hornbestien in der Wüste lag. Einen Moment lang fragte sie sich mit einer Mischung aus-Entsetzen und Zorn, ob sie lange genug bewußtlos gewesen war, daß die beiden Waga sie aus der Wüste herausgebracht haben konnten. Nein.
»Esss sssind noch mehr Kleider da«, antwortete Hrhon. »Oben.« Er deutete mit der Hand auf die unsichtbare Decke über seinem Kopf.
»Oben?« Tally starrte das grüngeschuppte Wesen verwirrt an. Einen Moment lang fragte sie sich allen ernstes, ob sie vielleicht noch immer draußen in der Wüste lag, schon halb tot und fiebernd, und dies alles nur träumte. Aber die Schmerzen in ihren Beinen und das seidenweiche Leder zwischen ihren Fingern waren einfach zu real, um Teil eines Traumes zu sein.
»Wo sind wir hier?« wiederholte sie ihre Frage.
»Wohin habt ihr mich gebracht?«
Sie wußte die Antwort, eine halbe Sekunde, ehe Hrhon sie gab. Trotzdem trafen sie die beiden Worte rnit der Wucht eines Peitschenhiebes.
»Im Turm«, sagte der Waga. »Dher Sssturm issst ssslimmer gheworden. Viel ssslimmer. Whir musssten es rissskiehren.«
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