Diesmal mußte es gelingen. Sie spürte, daß ihr das Schicksal keine weitere Chance zugestehen würde. Lange Zeit saß sie reglos auf dem Hügelkamm und starrte nach Norden, ehe sie endlich aufstand und zu Hrhon und Essk zurückging. Die beiden Wagas hatten ihr Zelt aufgebaut und ringsum einen flachen Sandwall aufgeschichtet, der Staubspinnen und Krell-Echsen zurückhalten würde, die dem Lager auf einem ihrer nächtlichen Raubzüge zu nahe kommen mochten. Daneben flackerte ein Feuer, über dem sich ein Bratspieß drehte. Der Duft des gebratenen Fleisches ließ Tally das Wasser im Munde zusammenlaufen. Sie war hungrig, und sie spürte erst jetzt, wie hungrig. Tagsüber machte es die Hitze beinahe unmöglich, zu essen, aber jetzt machte ihr Körper seine Bedürfnisse sehr nachhaltig geltend. Sie setzte sich neben das Feuer, trank einen Schluck lauwarmes Wasser aus der Flasche, die ihr Essk reichte, und zog ihr Messer aus dem Gürtel. Es war die einzige Waffe, die sie trug, und auch sie diente mehr der Zierde, und wenn überhaupt, dann nur dazu, gebratenes Fleisch zu schneiden, kein lebendes. Gegen eine Gefahr, der Hrhon und Essk nicht gewachsen waren, würden ihr auch Waffen nichts mehr nutzen.
Sie aß, trank noch mehr von dem schlecht schmeckenden Wasser, das noch aus der versandeten Quelle stammte, an der sie vor zwei Tagen vorbeigekommen waren, und befestigte die geleerte Wasserflasche sorgfältig wieder an ihrem Sattelzeug. Ihre Wasservorräte waren so gut wie erschöpft, aber beim Turm gab es eine Quelle, und das Wenige, was sie noch hatten, würde für den Rest des Weges reichen.
Eine Zeitlang blieb sie noch am Feuer sitzen und starrte in die lodernden Flammen. Dann kroch sie in ihr Zelt und streckte sich auf dem Lager aus Fellen und Decken aus, das die Waga für sie vorbereitet hatten. Aber sie lag noch lange mit offenen Augen in der Dunkelheit, ehe sie endlich Schlaf fand...
Sie hatte einen Alptraum, ohne sich hinterher daran zu erinnern, was sie eigentlich geträumt hatte; aber er war sehr realistisch gewesen, und selbst, als sie erwachte, glaubte sie sich für einen Moment noch in graue Spinnweben aus Furcht eingewoben und sah dunkle häßliche Dinge, die auf zu vielen Beinen auf sie zukrochen, mit kleinen, ruckhaften Bewegungen. Dann verschwand die Illusion, und zurück blieb ein überraschend schwacher Hauch von Furcht, der aus den tiefsten Abgründen ihrer Seele emporwehte. Sie war in Schweiß gebadet. Ihr Herz schlug so rasch, daß es schmerzte, und sie zitterte am ganzen Leib.
Draußen wurden stampfende Schritte laut. Die Plane vor dem Eingang wurde mit einem Ruck zuerst zurück und dann auseinander gerissen, und Essks ausdrucksloses Schildkrötengesicht erschien zwischen den Zeltplanen.
»Isss habe Eusss sssreien gehört, Herrin«, sagte sie zischelnd. »Wasss issst gesssehen?«
Tally starrte die Waga eine halbe Sekunde lang verwirrt an. Dann schüttelte sie hastig den Kopf. »Es ist nichts«, sagte sie unwirsch. »Ein... böser Traum, mehr nicht. Du kannst wieder gehen.«
Die Waga schwieg, aber ihr Blick wanderte weiter mißtrauisch über den Zeltboden. Ihre gewaltigen Pranken waren halb geöffnet, als suche sie etwas, was sie packen und zerquetschen konnte.
»Es ist gut«, sagte Tally noch einmal, und etwas schärfer. »Geh!«
Essk zog sich hastig zurück, und Tally atmete erleichtert auf. Es hatte ihre gesamte Willenskraft beansprucht, nicht zu zittern und sich nichts von ihrem Schrecken anmerken zu lassen. Sie konnte es sich nicht leisten, Schwäche zu zeigen. Nicht vor den Wagas.
Aber der Traum war schlimm gewesen diesmal; schlimmer als sonst. Und vor allem eher. Wie immer beim ersten oder zweiten Mal hatte sie noch gewußt, daß sie träumte, anders als später, wenn sie dem Turm näher waren und sich die Erinnerungen mit der Wirklichkeit vermengten. Und trotzdem: es war schlimmer. Wie in einer bizarren Umkehr des zu Erwartenden wurden ihre Erinnerungen klarer, je mehr Zeit verging. Etwas grub und wühlte in ihr, und es legte die Erinnerung an längst Vergessenes rascher frei, als die Zeit sie verwischen konnte.
Sie ballte die Fäuste, spannte jeden einzelnen Muskel in ihrem Körper bis zum Zerreißen an und atmete ein paarmal gezwungen tief ein und aus, dann schloß sie die Augen und lauschte gebannt in sich hinein. Aber da war nichts. Nichts als die jetzt rasch verblassende Erinnerung an den Traum und ein grauer Schatten von Furcht, der sich wie ein schleichendes Gift in ihrer Seele eingenistet hatte und nur ganz allmählich wieder wich.
Die Sonne stand eine Handbreit über dem Horizont, als sie wenig später aus dem Zelt trat. Trotz der frühen Stunde war es bereits stickig und warm, und der Wind überschüttete das Lager mit einem beständigen Hagel winziger rotbrauner beißender Sandkörner.
Tally lief mit gesenktem Kopf zu ihrem Pferd hinüber, kramte die Sandmaske aus ihrem Gepäck und streifte sie hastig über. Das Atmen fiel ihr unter dem feinmaschigen, aber dicken Gewebe noch schwerer, aber der Himmel hatte im Westen eine trübgelbe, kränkliche Färbung angenommen, und der Wind trug mit dem Sand noch einen anderen Geruch heran. Er ließ sich nicht beschreiben, denn er entsprach nichts, was es anderswo auf der Welt gab: eine Mischung aus verbrannter Erde und heißer Luft, und doch nichts von alledem. Aber niemand, der ihn einmal wahrgenommen hatte, vergaß ihn wieder. Es würde einen Sandsturm geben. Sehr bald sogar. Tally blinzelte einen Moment zum Himmel und rannte dann auf den Dünenkamm hinauf, den sie schon am vergangenen Abend als Aussichtsposten benutzt hatte. Der Turm war jetzt, im klaren hellen Licht des Morgens, sehr deutlich zu erkennen – ein schwarzer, ausgezackter Riesenfinger, der wie der Zeiger einer zernagten Sonnenuhr weit in den Himmel ragte, keine drei Meilen mehr entfernt. An seinem Fuß schien die Luft zu kochen, so daß sein unteres Drittel auch jetzt nicht klar zu erkennen war und sich ständig zu bewegen schien, als wäre er hinter einem unsichtbaren Wasserfall verborgen. Aber es war kein Wasser. Und es war auch nicht die Hitze, die die Luft dort flimmern ließ.
Tally drängte den Gedanken mit Macht beiseite und sah wieder nach Westen. Sie war sich nicht sicher, aber es kam ihr vor, als wäre die gelbliche Färbung des Himmels bereits stärker geworden. Der Sandsturm kam rascher heran, als sie gedacht hatte.
Sie fuhr herum, rannte mit weit ausholenden Schritten den Hügel hinab und winkte die beiden Wagas zu sich heran.
»Ein Sandsturm zieht auf«, sagte sie mit einer erklärenden Geste zum Himmel. »Wir lassen alles stehen und liegen und reiten sofort weiter.«
Hrhon und Essk nickten wortlos und eilten zu ihren Reittieren, so rasch es ihre kurzen Beine zuließen. Die Hornbestien waren unruhig. Ihre mächtigen Schwänze peitschten nervös durch den Sand, die riesigen stachelbewehrten Schädel waren witternd erhoben. Die beiden Ungeheuer spürten das Nahen des Sandsturms. Und sie schienen zu spüren, daß dieser Sturm etwas war, das selbst für sie gefährlich werden konnte.
Tally hatte noch keinen Sandsturm in der Gehran direkt erlebt. Niemand hatte das, jedenfalls niemand, der hinterher noch in der Lage gewesen wäre, darüber zu berichten. Aber sie hatte von den Gewalten dieser Stürme gehört, und sie hatte – auf einer Reise, die vier oder fünf Jahre zurücklag, die Reste eines Tieres gefunden, das sie nicht kannte – und auf das kennenzulernen sie auch keinen besonderen Wert legte, denn das Skelett war ungefähr doppelt so groß gewesen wie das einer Hornbestie – eines Tieres jedenfalls, das offensichtlich von einem solchen Sturm überrascht worden war.
Selbst jetzt spürte sie noch etwas von dem damaligen Schrecken, wenn sie an den Anblick zurückdachte. Das Tier mußte versucht haben, sich einzugraben, aber es hatte es nicht mehr ganz geschafft: die Teile seines Körpers, die dem Sturm preisgegeben gewesen waren, waren sauber bis auf die Knochen abgeschliffen worden; Fleisch, Muskeln und Panzerplatten so sauber weggeschmirgelt und poliert wie die Knochen einer Eidechse, die einer halbverhungerten Ameisenarmee über den Weg gelaufen war.
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