»Er wird es wissen«, entgegnete die Gazala ruhig. »Sie ist eine Drachenelfe. Er weiß um euch alle. Auch, dass du gerade seine Befehle missachtest.«
Nodon schob den Riegel zurück. Ihm waren die Befehle egal. Er war mit Nandalee auf Nangog gewesen und hatte gegen die goldköpfige Schlange gekämpft, gegen Jaguarmänner und Adlerritter. Er hatte an ihrer Seite das schreckliche Beben überlebt, das die Goldene Stadt in ein riesiges Feld aus zerbrochenem Gestein verwandelt hatte. Er würde jetzt nicht drei Schritt von ihr entfernt vor einer verschlossenen Tür stehen bleiben und zusehen, wie sie blutete.
»Und wenn sie mit deinem Mitleid rechnet, Nodon? Wenn es nur ein Trick ist, um sich zu befreien?«
Er riss die Tür auf.
Nandalee presste sich jetzt beide Hände auf den Unterleib. Dabei krümmte sie sich vor Schmerzen. Nodon wusste, wie man Verwundete auf dem Schlachtfeld versorgte. Aber das hier … Plötzlich verlor das Licht, das durch die Tür fiel, seine Strahlkraft. Nur ein Wimpernschlag, und der Dunkle kniete neben ihr. Er zog ihre Hände zur Seite. Die Luft in der Kammer begann zu vibrieren, als er ein Wort der Macht rief.
»Du wirst ihnen nichts tun!«, schrie Nandalee. »Rühr sie nicht an!« Sie schlug ihm ins Gesicht. Er ignorierte es.
»Halt ihre Hände«, befahl er Nodon ruhig.
Der Drachenelf zögerte, trat dann aber zu den beiden.
»Ich bin hier, um ihr zu helfen! Sie schadet sich nur selbst, wenn sie dagegen ankämpft. Und ihren Kindern …«
Wieder schlug Nandalee dem Dunklen ins Gesicht.
Aus den Augenwinkeln sah Nodon, was mit ihr nicht stimmte. Entsetzt griff er nach ihren Händen und zog diese mit aller Kraft an sich.
»Hilf ihm nicht!«, schrie Nandalee verzweifelt. »Trau deinen Augen nicht! Er täuscht dich! Glaub nicht, was er dich sehen lässt!«
Der Dunkle zerriss ihr fadenscheiniges Kleid und griff ihr zwischen die Schenkel.
Nandalee bäumte sich verzweifelt auf. »Er will an die Kinder! Er will alles vernichten, was von Gonvalon noch geblieben ist.«
Sie musste sich irren! Wenn es stimmte, was sie sagte, dann wäre der Dunkle einfach nur böse. Sein Gebieter hatte Nodon oft auf Missionen geschickt, deren Hintergründe der Elf nicht durchschaut hatte. Nodon hatte für ihn Männer und Frauen getötet, die auf den ersten Blick ehrbar wirkten. Es gab etwas Größeres … etwas, das nur eine Himmelsschlange im Blick haben konnte, weil es das Verstehen einfacher Albenkinder bei Weitem überschritt. Dieser Glaube hatte es Nodon ermöglicht, seine Befehle auszuführen. Wenn er ihn aufgab, dann war er verloren.
»Sorg dafür, dass sie still hält.« Der Dunkle klang nun besorgt.
Da war etwas, dicht unter der Bauchdecke Nandalees, das heraus wollte. Er sah, wie sich Fleisch ausbeulte, und zögerte nicht länger. Seine schlanken Finger fanden sich in ihrem Nacken, während sie sich verzweifelt wand, um ihnen beiden zu entkommen. Er drückte den Nervenpunkt, der alle Muskeln erschlaffen ließ. Nandalee stieß einen erschreckten Laut aus, dann sackte sie in sich zusammen. Ihre Augen waren auf ihren Leib gerichtet.
Der Dunkle hatte ihren Bauch bloßgelegt. Seine zierliche, weiße Hand strich über die helle Haut der Elfe.
Tränen traten in Nandalees Augen. Sie hatte keine Stimme mehr, Zunge und Lippen gehorchten nicht länger ihrem Willen. Doch ihre Augen sagten mehr als tausend Worte. Sie flehten, es nicht zu tun.
Die Hand zerteilte ihr Fleisch. Es floss kein Blut. Zunächst.
Nodon schnappte nach Luft, als der Dunkle einen winzigen, abgetrennten Kinderarm aus der Wunde zog. Hastig legte der Schwertmeister Nandalee die Hände auf die Augen, damit sie nicht sah, was dort geschah.
Wieder griff der Dunkle in ihren Leib. Diesmal holte er etwas Großes, Blutiges hervor. Nun wandte auch Nodon erschaudernd den Blick ab. Dieses Ding hatte Krallen und einen geschuppten Schwanz. Bernsteinfarbene Augen mit geschlitzten Pupillen öffneten sich, kaum dass es dem Mutterschoß gewaltsam entrissen war. Es fauchte. Der Schwanz wand sich um den Unterarm des Dunklen, und es schnappte mit spitzen, kleinen Zähnen nach dessen Fingern.
Als sie erwachte, war sie von goldenem Licht umfangen. Nandalee sah verschwommen ein schmales Gesicht über sich. Jemand hielt ihr die Hand. Gonvalon?
»Bist du zurück …« Sie hatte kaum die Kraft zu sprechen. Er antwortete ihr nicht, aber es tat gut, seine warme Hand zu spüren, als sie erneut in tiefen, traumlosen Schlaf glitt.
Als sie das nächste Mal die Augen öffnete, war Nodon an ihrer Seite. Er wirkte müde. Dunkle Ringe hatten sich unter seine Lider gegraben. Es kostete ihn sichtlich Mühe, sie anzulächeln.
»Hast du Hunger?«
Ein galliger Geschmack lag ihr auf der Zunge. Verwundert sah sie sich um. Sie war nicht mehr in der hässlichen Kammer mit den grauen Steinwänden. Dieses Zimmer war weiß getüncht. Ein großes Fenster gab den Blick frei auf den Himmel und scharf gezackte Berge. Sie lag in einem Bett mit Seidenlaken, die nach Vanille dufteten. Auch die Kette, mit der der Dunkle sie wie einen wilden Hund gefesselt hatte, war verschwunden.
Sie blinzelte. In Nodons Augen stand Furcht. Was erschreckte ihn? Warum war er hier?
Die Erinnerung traf sie wie ein Dolchstoß ins Herz. Entsetzt richtete sie sich auf, zog die Decke zur Seite und tastete über ihren Bauch. Er war noch groß, aber sie spürte nichts mehr.
»Sie leben«, sagte der Schwertmeister leise.
Sie erinnerte sich an den winzigen, abgetrennten Arm, den sie in der Hand des Dunklen gesehen hatte. Wieder strich sie über ihren Bauch, horchte verzweifelt in sich hinein. Da war nichts. Sie wollte schreien, doch das Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu.
»Es geht ihnen gut!« Nodon sagte das in jenem beschwörenden Tonfall, hinter dem sich Lügen verstecken.
Nandalee ließ sich zurücksinken. Sie hatte keine Kraft mehr. Deutlich erinnerte sie sich, wie der Dunkle in ihren Bauch gegriffen hatte, um ihre Kinder darin zu zerreißen. Sie hatte es gesehen! Den winzigen Arm …
»Geh!«, stieß sie schließlich hervor. Sie wollte Nodon nicht länger sehen. Den erfahrensten Mörder des Dunklen, der geholfen hatte, ihre Kinder zu töten.
»Es ist nicht so, wie du denkst«, sagte er matt.
Sie drehte sich von ihm fort. Starrte die weiße Wand an. Sie wünschte, sie hätte weinen können, doch selbst dazu fehlte ihr die Kraft.
»Du hattest drei Kinder«, sagte der Mörder mit tonloser Stimme. »Eines von ihnen war … anders. Es war größer … und hätte seine beiden Geschwister getötet. Es ist schneller gewachsen. Als wir dich in deinem verborgenen Tal gefunden haben, habe ich seine Aura noch nicht sehen können. Es ist sehr schnell gewachsen. Der Dunkle sagt, du hättest es mit deinem Hass genährt.«
Zorn wallte in ihr auf. »Das heißt, ich bin schuld?«
»Dein Temperament begünstigte ohne Zweifel, was geschehen ist«, entgegnete Nodon hart. »Ich sehe, wie sich jetzt in diesem Augenblick deine Aura ändert. Wie die Wut wieder in dir wächst. Glaubst du, deine Kinder bleiben davon unberührt? Du spürst die beiden lebenden Kinder nicht – vielleicht liegt es daran, wie er das dritte geholt hat …« Nodon stockte. »Vielleicht ist noch nicht alles verheilt. Manche Wunden bleiben lange taub. Aber sieh hin! Öffne dein Verborgenes Auge und sei nicht blind dafür, wie deine Aura auf sie übergreift und sie verändert. Sei nicht blind für das, was du tust. Ich kann dir nicht erklären, was mit deinen Kindern vor sich geht. Sie sind von besonderer Art. Ja, du hast eines verloren. Aber zwei leben noch! Denk an sie und vergiss das dritte!«
Es widerstrebte ihr zutiefst, von Nodon irgendwelche Befehle anzunehmen. Er hatte ihr nichts zu sagen, dieser Mordgehilfe! Allerdings hatte er recht damit, dass ein Blick durch das Verborgene Auge ihr zeigen würde, ob ihre verbliebenen Kinder noch lebten. Behutsam legte sie beide Hände auf ihren Bauch. Sie spürte keine Bewegung. Kein Lebenszeichen. Aber hieß das wirklich, dass sie tot waren? Warum hatte sie sich lieber ihrer Verbitterung hingegeben, als selbst nachzusehen?
Читать дальше