Lyvianne war überrascht. Sie versuchte gar nicht erst, es sich nicht anmerken zu lassen. Der Goldene konnte in ihren Gefühlen wie in einem aufgeschlagenen Buch lesen. »Es gibt noch etwas, das ich in den Erinnerungen Aarons gefunden habe. Und das ist womöglich noch wichtiger. Es geht um ein Erlebnis, das er hatte und das ihn noch heute manchmal in seinen Alpträumen quält.«
Nun war es der Goldene, der überrascht war, als er in den gestohlenen Erinnerungen las und sah, was Aaron hinter einer hohen Mauer verborgen hatte. So überrascht, dass er nicht weiter in Gedanken zu ihr sprach. »Habt Ihr irgendjemandem davon berichtet, meine Dame?«
»Selbstverständlich nicht. Ich diene allein Euch, mein Gebieter. Mir war sofort klar, dass dieses Wissen zu bedeutend war, um es mit anderen zu teilen.« Ganz besonders mit dieser falschen Schlange Bidayn, dachte Lyvianne.
Als der Goldene sie an seinen Gefühlen teilhaben ließ, waren diese so intensiv, dass es ihr den Atem abschnürte und ihr die Brust eng wurde. Die Bitternis der verstrichenen Monde wurde hinweggebrannt. Es tat ihm leid, sie jetzt erst zu sich gerufen zu haben, ja, er empfand Respekt vor ihr. Es war überaus klug, sich auf diesem Wege Zugang zu seinen Erinnerungen zu verschaffen, meine Schöne. Ich hätte es wissen müssen, dass Ihr niemals unbedacht oder aufgrund sentimentaler Regungen handelt, verehrte Lyvianne. Ihr seid die Meisterin unter all meinen Dienerinnen. Verzeiht, dass ich mich von Bidayn habe blenden lassen.
Jedes einzelne Wort war Balsam für ihre Seele. Zugleich aber fühlte Lyvianne sich beschämt, ihn dazu gedrängt zu haben, sich bei ihr zu entschuldigen. Er war ein Himmlischer! Er stand über Entschuldigungen, und ihn in eine solche Lage zu bringen war respektlos. Bestürzt überlegte sie, wie sie diesen unverzeihlichen Fehler wiedergutmachen konnte. Sie vermochte ihm nicht länger in seine bernsteinfarbenen Augen zu sehen. Beschämt senkte sie den Blick.
»Es ist alles gut.« Seine warme, männliche Stimme ließ sie erschauern. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und hob mit der anderen ihr Kinn, sodass sie nicht anders konnte, als ihm ins Angesicht zu blicken. In dieses stolze, herrschaftliche Antlitz mit den edel geschwungenen Lippen. Jenen Lippen, die sie, während er sie tätowiert hatte, so leidenschaftlich liebkost hatten.
»Auch mir mag es geschehen, dass ich eine Lage falsch einschätze. Ich bitte darum, dass Ihr mich auch in Zukunft darauf hinweist, wenn ich Bedeutendes übersehe.« Er lächelte warmherzig. »Und wartet – falls es noch einmal geschieht – bitte nicht wieder viele Monde, bis Ihr vor mich tretet, um mich auf meinen Irrtum hinzuweisen. Wir kennen einander nun schon so lange, Dame Lyvianne. Ihr solltet wissen, wie sehr ich Euer Urteil schätze und dass sich niemals jemand zwischen uns drängen kann.«
Lyvianne wusste, dass sein ganzes Wesen von Magie durchdrungen war. Einer Magie, die selbst das Licht, das ihn umfing, dazu brachte, heller zu leuchten, und die die Luft mit Wohlgerüchen erfüllte, wo immer er weilte. Es war Zauberwerk, wenn allein ein freundlicher Blick von ihm genügte, einem das Herz aufgehen zu lassen. All das wusste die Elfe, aber sie wollte sein Lächeln und seine freundlichen Worte nicht hinterfragen. Es stimmte, sie war ganz und gar die Seine. Sie hatte sich entschieden, sich für ihn in Stücke schneiden zu lassen, wenn es darauf ankäme, als er sie als eine seiner Drachenelfen auswählte. Nie würde sie vergessen, welch unbändiger Stolz sie erfüllt hatte, als der Goldene sie in der Weißen Halle zur Seinen gemacht hatte. So wie damals, so fühlte sie noch jetzt. Und sie war ihm dankbar, dass sein Lächeln und seine Worte alle Zweifel aus ihrem Herzen gebrannt hatten.
»Ich werde Euch nun um etwas bitten müssen, meine Dame, was Euch in höchste Gefahr bringen wird. Eine Tat, deren Ruhm niemals auf Euch abstrahlen wird, denn niemals darf offenbar werden, dass wir es waren, die den kühnen Schritt wagten, sich gegen meine Brüder und die Devanthar zugleich zu stellen. Geht an den Ort, den Ihr in den Erinnerungen des Unsterblichen Aaron gesehen habt. Und wenn Ihr dort findet, was wir dort vermuten, dann bringt es mir. Ihr werdet das Schicksal dreier Welten in Eure Hände nehmen, meine Dame. Und es gibt niemanden, den ich mit mehr Zuversicht auf diese schier aussichtslose Mission schicken würde als Euch, meine unbeugsame Lyvianne. Ihr seid die Einzige, die es schaffen kann.«
Lyvianne war – gegen alle Vernunft – überwältigt. Es war ein Todeskommando. Und sie freute sich darauf, für ihre Himmelsschlange das Unmögliche zu wagen.
Die Hitze verwandelte den Horizont in Schlieren von flüssigem Glas. Zumindest sah es so aus. Die Luft tanzte in der unbarmherzigen Sonne. Lyviannes Streitwagen zog eine Staubfahne hinter sich her, die in der von flachen Hügeln durchsetzten Ebene auf viele Meilen zu sehen sein musste. Sie war vom Weg abgewichen, denn bevor sie sich der tödlichen Gefahr des Geheimnisses stellte, das sie aus Aarons Erinnerungen gestohlen hatte, wollte sie sich den Ort ansehen, der den Herrscher Arams verwundbar machte.
Sie hatte den Goldenen nicht um Erlaubnis gefragt. Jetzt, da sie seinem Zauberbann entwichen war, sah sie die Begegnung mit ihm in einem anderen Licht. War es wirklich Vertrauen gewesen, das ihn dazu bewogen hatte, sie hierherzuschicken, weil ihr das Unmögliche gelingen mochte? Oder hatte er sie ausgesandt, um zu sterben? Es wäre nicht das erste Mal, dass er seine Drachenelfen wie Pfeile einsetzte, die man abschoss und vergaß. Wenn sie ihr Ziel fanden und töteten, hatten sie ihre Aufgabe erfüllt. So war es Talinwyn ergangen, der Schülerin Gonvalons, die gleich auf ihrer ersten Mission umgekommen war, nachdem sie den Unsterblichen Aaron von seinem Wolkenschiff gestoßen und dafür gesorgt hatte, dass heimlich ein Bauer zum Herrscher über eines der sieben Großreiche wurde. Lyvianne hatte die Elfe in den Erinnerungen Aarons gesehen. Und in ihren Augen gelesen … Talinwyn hatte gewusst, dass sie sterben würde. Aber wenigstens hatte sie ihre eigene Rüstung getragen, als sie in ihren letzten Kampf gegangen war.
Lyvianne hasste die Rüstung, die sie tragen musste, noch mehr als die Männergestalt, die sie angenommen hatte. Es war eine plumpe Tonne, nur eine schmucklose Brustplatte zusammen mit einem Rückenpanzer, der über ihre Schulterblätter scheuerte. Daran waren drei breite Metallstreifen geheftet, die sich wie quergelegte Fassdauben um ihre Taille, den Schritt und die obere Hälfte der Oberschenkel schlossen. Um ihren Hals war eine Berge gelegt, die bis zu ihrer Nasenspitze reichte. Und auf ihrem Kopf saß ein Eberzahnhelm mit einem langen Pferdeschweif, der von dessen Spitze wippte. Eberzähne! Diese Barbaren schätzten sie als besonders hart. Man musste schon ein Menschenkind sein, um sich solcher Torheit zu verschreiben. Sie spalteten die Zähne, bohrten Löcher hinein und nähten sie dicht an dicht auf den Helm. Von innen war ihr Helm mit Filz gefüttert, der sich in der Hitze mit ihrem Schweiß vollgesogen hatte, sodass er auf ihrer Stirn scheuerte. Ebenso wie seine Lederriemen ihre stoppeligen Wangen wundrieben.
Das mit Abstand übelste Ungemach, das ihr ihre Verwandlung beschert hatte, war jedoch ihr juckender Bart. Wie hielten Männer es nur aus, dieses Gestrüpp im Gesicht zu tragen? Unbegreiflich!
Die Elfe strich sich Schweiß von der Stirn. In der Rüstung kochte sie in dieser Hitze. Staub haftete auf der Bronze, ihren Händen und in ihrem Haar. Staub war ihre Standarte, die weit hinter ihrem Streitwagen herwehte. Fünf Tage schon fuhr sie durch das karge Land. Sie gab sich als Krieger aus, der aus Nangog heimkehrte, um seinem sterbenden Vater die letzte Ehre zu erweisen. Eine gute Geschichte, denn so sah man ihr nach, wenn sie finster blickte und es vorzog zu schweigen.
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