Die anderen Kinder hatten inzwischen die Dorfstraße erreicht. Sie kamen gerade zögerlich näher, als Rufe aus den Häusern erklangen. Mütter winkten sie durch hastig aufgerissene Türen. Was machte die Dorfbewohner so unruhig? Stimmte etwas nicht mit ihrer Maskerade? Lyvianne war auf ihrer Reise einigen Kriegern begegnet. Sie hatten ganz ähnlich ausgesehen.
»Du wolltest mir mehr über deinen Vater erzählen«, sagte sie und wandte sich wieder Daron zu. Er schien der Einzige hier zu sein, der sie nicht fürchtete. Er mochte weich aussehen und ein unvollkommenes Menschenkind sein, aber er hatte das Herz eines Löwen. Sie lehnte ihr Schwert an die Tränke und trat dann zu den Pferden.
»Mein Vater hat in der Schlacht auf der Hochebene von Kush Rücken an Rücken mit dem Unsterblichen Aaron gekämpft. Als die Elev Wanten der Luwier die Schlachtlinie durchbrochen haben, hat er sich die goldene Löwenstandarte gegriffen und sie gegen die Feinde verteidigt.«
»Elev Wanten?«, wiederholte sie skeptisch, während sie die Pferde ausspannte und zur Tränke führte.
»Hier zu Lande kennen nur die weisesten der Weisen diese schrecklichen Tiere.« Man merkte Daron an, dass er diese Geschichte schon oft erzählt hatte. Voller Stolz und in leicht überheblichem Ton fuhr er fort. »Es sind Ungeheuer, so groß wie ein Haus, die ihren Schwanz im Gesicht tragen. Sie besitzen nur zwei Zähne, aber die wachsen ihnen so lang wie Speere aus dem Maul heraus. Und wenn sie angreifen, dann packen sie die Unglücklichen, die sich ihnen in den Weg stellen, mit ihrem Schwanz, heben sie hoch und spießen sie auf ihren langen Zähnen auf. Manchmal tragen sie drei oder vier Tote auf ihren Zähnen, aber dann wird ihnen der Kopf so schwer, dass sie nicht mehr weitergehen können.«
Während die Pferde tranken, sah Lyvianne den Jungen durchdringend an. Daron redete immer noch. Von der Löwenstandarte und den Ungeheuern mit dem Schwanz im Gesicht. Er glaubte diese Geschichten tatsächlich! Plötzlich unterbrach er sich und sah sie an. »Hast du dort auch gekämpft?«
»Es war ein blutiger Tag«, sagte sie nur. Sie kannte die Bilder aus Aarons Gedanken. Die Elefanten, die durch das trockene Flussbett gestürmt waren, und das Gemetzel, das die wenigen Dickhäuter angerichtet hatten, die durchgekommen waren.
Eine Bewegung vor ihr auf der Straße ließ sie aufblicken. Ein hagerer, hellbrauner Hund war erschienen. Neugierig hob er den Kopf und sah zu ihnen her. Dann schien er etwas gehört zu haben. Er blickte zum Tor in einer nahen Mauer und machte sich eilends davon.
Lyvianne stellte sich etwas näher an die Tränke, sodass sie leicht nach dem Schwert greifen könnte.
Fünf Männer traten durch das Tor auf die Straße. Sie trugen Dreschflegel und sahen so aus, als könnten sie damit umgehen. Lyvianne konnte sie riechen, obwohl sie noch etwa zwanzig Schritt entfernt waren. Sie stanken nach Schweiß und zu lange getragenen Kleidern, was in Einklang mit den speckigen Tuniken stand, die sie trugen. Mit Ausnahme ihres Anführers waren es gedrungene, bullige Kerle mit kurzen, speckigen Hälsen. Jener hingegen war schlanker und trug einen halbwegs gestutzten, spitzen Bart, der sein Gesicht noch länger erscheinen ließ, als es ohnehin schon war. Erstes Grau umfing seine Schläfen. Er trug eine himmelblaue Tunika mit breitem, rot besticktem Saum, und im Gegensatz zu seinen Handlangern steckten seine Füße in Sandalen.
»Das ist Sinas Vater«, flüsterte Daron, als wäre damit alles gesagt. »Er glaubt, er kann hier allen sagen, wo es langgeht, nur weil er der reichste Bauer Belbeks ist.«
Die kleine Abordnung blieb etwa zehn Schritt vom Brunnenhaus entfernt stehen. »Wer bist du? Und was willst du hier?«, rief Sinas Vater ihr entgegen.
Lyvianne griff nach ihrem Schwert, legte es lässig über die Schulter und trat auf den sonnendurchglühten Platz. Der Geruch der Angst mischte sich unter den Gestank des Bauernpöbels. Die Dummköpfe standen so, dass sie die Sonne blenden würde, wenn es zu einem Streit käme.
Lyvianne löste mit der Linken den Kinnriemen ihres Helms. Dann packte sie ihn beim Rosshaarschweif und zog ihn sich vom Kopf. Der Goldene hatte ihr ein hartes, kantiges Gesicht für diesen Ausflug gegeben. Ein Gesicht, gezeichnet von Schlachten, der unbarmherzigen Sonne und der offensichtlichen Abwesenheit jeglicher Herzensgüte. »Wer bist du, mich auf offener Straße anzuschreien? Ist das die Gastfreundschaft von Belbek? Da bin ich auf manchem Schlachtfeld freundlicher empfangen worden. Oder ist das hier etwa ein Schlachtfeld?« Sie genoss es zu sehen, wie jegliche Farbe aus dem Antlitz des Anführers wich. Eigentlich sollten solche Spielchen unter ihrer Würde sein, aber es war zu heiß, sie hatte zu lange auf dem Streitwagen gestanden und sie verspürte Lust darauf, dieses unhandliche Schwert in Fleisch zu versenken.
»Ich heiße Behruz«, entgegnete der Anführer des Trupps und schaffte es, weder verärgert noch ängstlich zu klingen. »Die letzten Krieger, die in dieses Dorf kamen, brachten einen Toten. Männer in Rüstungen verheißen nichts Gutes. Was also führt dich hierher?«
»Mein Durst.«
»Deine Rüstung. Solche Rüstungen tragen die Krieger Luwiens.«
Lyvianne lächelte kühl. »Seit wir sie auf der Hochebene von Kush von ihren Streitwagen gezerrt haben, kann man sie auch häufig in Aram sehen.«
Einer der Bauern in Behruz’ Gefolge lachte.
»Wir haben hier keine Schenke und keine liederlichen Weiber. Ich fürchte, Belbek hat wenig Abwechslung zu bieten.«
»Willst du mich beleidigen, Bauer?«
»Ich möchte dich nur vor Enttäuschungen bewahren. All diese Dinge wirst du bei der Mine Um El-Amat finden. Du könntest sie noch vor Einbruch der Nacht erreichen. Deine Pferde sehen stark aus …«
Lyvianne war erneut versucht, Öl ins Feuer zu schütten. Warum war sie so auf Streit aus? Lag es wirklich an der Hitze oder daran, dass sie Angst vor dem hatte, was sie am nächsten Tag erwartete. »Bring mir Brot und Käse. Lasst mich im Schatten des Brunnenhauses ruhen. Ich bin keine Gefahr für euer Dorf. Ich bin nur ein durchreisender, müder Krieger, der an das Sterbebett seines Vaters gerufen wurde.«
Behruz strich sich nachdenklich über den Bart, dann straffte er seine Schultern. »Ihr seid selbstverständlich mein Gast. Bitte entschuldigt unser Misstrauen. Dieses Dorf liegt am Ende der Welt. Es kommen nur sehr selten Fremde hierher.« Bei diesen Worten wirkte er verlegen. »Wir haben wohl keine guten Umgangsformen …«
»Ich esse beim Brunnen«, entschied Lyvianne. Ein Festmahl bei dem Bauern würde alles nur verzögern. Sie wollte schnell fort von hier. Das Dorf zu besuchen war nur eine Ausflucht, um das Unausweichliche hinauszuschieben. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass der Goldene ihr das Kommando über eine ganze Gruppe von Drachenelfen geben würde. Sie allein zu schicken war der Bedeutung ihrer Entdeckung nicht angemessen. Es sei denn, er wollte, dass sie umkam.
»Wie Ihr wünscht, Herr. Ich werde Euch sogleich die besten Speisen bringen lassen, die unser Dorf zu bieten hat. Es gibt einen ausgezeichneten Ziegenkäse, und wir haben auch …«
»Macht Euch keine Umstände«, entgegnete sie knapp und wandte sich ab. Die Unterhaltung war ihr lästig. Sie wollte zurück in den Schatten.
»Komm her, Daron, und belästige unseren Gast nicht.« Behruz’ Stimme überschlug sich, als er den Jungen zu sich befahl. Lyvianne hatte ganz den Eindruck, dass Daron Ärger bekommen würde, weil sie mit ihm beim Brunnen zu stehen einem Festmahl mit diesem Dorfkönig vorgezogen hatte.
»Daron hat mir erzählt, dass sein Vater ein Freund des Unsterblichen Aaron war …«
»Der Kleine ist ein Aufschneider«, entgegnete Behruz abfällig. »Vergeudet nicht Eure Zeit mit ihm, Herr. Und du kommst jetzt her, Daron. Deiner Mutter wird es nicht gefallen, wenn du Fremde belästigst. Du solltest dich besser um sie kümmern, statt dich den ganzen Tag herumzutreiben!«
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