Es war still geworden in dem weiten Kellergewölbe. Der Zapote hatte die letzten Worte so laut gesprochen, dass jeder sie hatte hören können.
»Alles nur Aberglaube«, sagte Barnaba mit fester Stimme. »Es gibt einen tödlichen Feind dort draußen, das will ich nicht leugnen. Es ist die Kälte! Aber dagegen werden wir uns wappnen.« Er wagte es nicht, in Anwesenheit der Zapote von der Großen Göttin zu sprechen. »Ihr werdet Helden sein, wenn wir mit unserem Schatz heimkehren. Und ein jeder von euch wird seinen Anteil vom Schatz bekommen.«
Doch diesmal reichten seine Worte und sein Enthusiasmus nicht, um Angst und Zweifel aus den Gesichtern der Wolkenschiffer zu verbannen. Und wie um ihn zu verhöhnen, ertönte von draußen ein unheimliches Geheul, als der Nordwind ohne Vorwarnung über die Stadt am Ende der Welt herfiel. Barnaba sah, wie sich die Zapote in ihre Decken kauerten, während der Wind am Treppenabstieg jaulte und mit den Flammen im Eingang spielte. Er würde diesen Geistern trotzen, dachte er entschlossen. Nangog beschützte ihn. Er war ihr Auserwählter! Ihm konnte nichts geschehen!
Diesmal würde er landen, entschied Nodon und legte seinem Pegasus Mondschatten sanft die Hand auf den Hals. Der große Hengst verstand, schnaubte aber unruhig. Sie flogen im letzten Abendlicht über eines der Seitentäler jener lang gezogenen Bergkette, in deren Mitte sich der Jadegarten verbarg. Der Ort, den der Erstgeschlüpfte auserkoren hatte, um dort seinen Thron zu errichten. Der älteste der Drachen, sein Gebieter, sehnte sich nach Nachricht über Nandalee. Nodon wusste es, auch wenn der Dunkle ihn nicht beauftragt hatte, nach ihr zu suchen. Die Versessenheit seines Meisters auf Nandalee war Nodon unbegreiflich. Sicher, die rebellische junge Elfe aus den Eiswüsten Carandamons war etwas Besonderes, aber traf das nicht auf jeden einzelnen Drachenelfen zu? Sie alle hatten sich weit von dem Leben entfernt, das die übrigen Elfen führten. Sie wussten um die Geheimnisse der Welten, wussten um das Dunkel hinter der strahlenden Herrschaft der Himmelsschlangen. Wussten um all die Gefahren, die anderen jede Hoffnung auf die Zukunft geraubt hätten.
Mondschatten war eine weite Kehre geflogen, um nun in das enge Tal hinabzustoßen, das Nandalee sich als Versteck erwählt hatte. Fast berührten die Schwungfedern seiner Flügel die dunklen Felswände. Das Licht der Abendsonne reichte nicht mehr hinab bis zum Talgrund. Die Baumkronen waren nur Schattenrisse im Zwielicht. Nodon spürte, wie nervös sein Hengst war. Dies war kein guter Ort, um zu fliegen. Der Pegasus spreizte die Flügel und verringerte so sein Tempo, doch es war kein geeigneter Platz zum Landen zu entdecken. Er würde mindestens zwanzig Schritt freie Fläche brauchen, um auszulaufen.
Vom Grund des Tals erklang ein herausforderndes Wiehern. Das musste Sternauge sein, der große Pegasusrappe, den Nandalee ritt. Er sah in Mondschatten wohl einen Eindringling in sein Revier.
Der Hengst schnaubte nervös. Das Tal verengte sich vor ihnen noch weiter. Mondschatten schlug kräftig mit den Flügeln, um wieder Höhe zu gewinnen, als ein Pfeil zwischen den Baumkronen hervorschoss und Nodons Wange streifte. Der Elf ließ sich nach hinten fallen, rollte über die Kruppe seines Hengstes ab und stürzte den Baumkronen entgegen. Sein Fall währte kaum zwei Herzschläge, als er mit ausgestreckten Armen im dünnen Astwerk der Baumkronen landete. Die splitternden Zweige verlangsamten seinen Sturz. Nodon schaffte es, nach einem dickeren Ast zu greifen. Mit einem Ruck, der ihm fast die Arme aus den Schultergelenken kugelte, endete sein Sturz. Einen Teil der Kraft konnte er in einen Aufwärtsschwung lenken. Er pendelte zurück, stemmte sich hoch und schwang ein Bein über den Ast. Er wagte es nicht zu verharren. Jeden Augenblick könnte ihn ein weiterer Pfeil treffen. Sich nicht mehr zu bewegen erhöhte die Wahrscheinlichkeit deutlich. Seine Arme brannten, seine Muskeln waren gezerrt. Mit zusammengebissenen Zähnen ging er in die Hocke und eilte den wippenden Ast entlang dem Stamm des Baumes entgegen. Dort ließ er sich tiefer gleiten. Sprang von Ast zu Ast, landete mit einem letzten, federnden Satz auf dem weichen Waldboden und zog sein Schwert. Wer hatte auf ihn geschossen? Ganz gewiss war es nicht Nandalee gewesen. Sie hätte ihn nicht verfehlt!
Nodon duckte sich hinter einen Stamm und spähte ins Zwielicht. Immer noch prasselten Äste und Blätter zu Boden. Er war ein paar Schritt von der Stelle entfernt, an der er in die Baumkronen gefallen war. Ein Stück voraus bewegten sich die Blätter des Königsfarns, der an den lichteren Stellen den Waldboden bedeckte.
Es wurde still. Nodon schob die Klinge seines Schwertes flach in den weichen Waldboden, damit kein verirrter Lichtstrahl den Elfenstahl aufblitzen ließ. Vorhin hatte er Glück gehabt. Er sollte nicht darauf hoffen, dass ihn auch der nächste Pfeil verfehlte.
Der Elf öffnete sein Verborgenes Auge und hoffte, die Aura seines Gegners zu entdecken. Wer war heimlich hierhergekommen, so nah zur Pyramide des Dunklen? Und wen duldete Nandalee, die so viele Wochen jeden Bewohner der Oase gemieden hatte, in ihrer Nähe?
Nodon entdeckte die Auren kleiner Vögel im Geäst. Etwa dreißig Schritt entfernt bewegte sich etwas Großes zwischen den Bäumen. Goldenes Licht umspielte die Gestalt. Das musste Nandalees Pegasus sein.
Vorsichtig, ganz darauf bedacht, keinen Laut zu verursachen, drehte Nodon sich um. Wer immer ihn jagte, würde sich gewiss nicht in der Nähe des Pegasus aufhalten. Stattdessen würde der Angreifer den Hengst nutzen, um ihn abzulenken, und sich aus einer anderen Richtung nähern.
Der Elf flüsterte ein Wort der Macht. Er war ganz in Schwarz gewandet. Der Zauber, den er wob, würde ihn mit den Schatten des Waldes verschmelzen lassen. Er wäre so gut wie unsichtbar – außer für einen Jäger, der wie er sein Verborgenes Auge öffnete, um seiner Beute nachzustellen. Die Aura, das leuchtende Netz aus haarfeinen Kraftlinien, das alles, was lebte, umgab, zu verzerren oder gar ganz verschwinden zu lassen war ungleich schwerer, als mit den Schatten des Waldes zu verschmelzen. Solch einen Zauber zu weben lag außerhalb seiner Macht.
Lautlos schob Nodon sein Schwert zurück in die geölte Lederscheide. Dann huschte er zum nächsten Stamm. Er bewegte sich fort von Sternauge. Der große Hengst stampfte nervös mit den Hufen. Er durfte nicht mehr in seine Nähe kommen. Ganz gleich, wie gut er sich versteckte, Sternauge würde ihn wittern und unruhig werden. So würde er ihn verraten. Nodon entfernte sich gerade noch weiter, als ihm die Idee kam, dass er den Hengst in diesem tödlichen Spiel auch zu seinem Vorteil nutzen konnte.
Er hob einen Ast und schleuderte ihn in Richtung des Pegasus. Es war der älteste Trick der Welt, aber er war so alt, weil er meist klappte. Der Ast schlug ins Gebüsch. Im selben Moment sprang Nodon auf, um sein Versteck zu wechseln.
Ein Schlag, als hätte ihn ein Pferd getreten, traf ihn auf der Brust. Hart schlug er mit dem Rücken gegen den Baum, der ihm eben noch als Deckung gedient hatte. Ein Pfeil hatte ihn eine Handbreit unter dem Schlüsselbein getroffen. Dunkles Blut schoss den Schaft entlang und benetzte die Befiederung. Nodon spürte keinen Schmerz. Noch bewahrte ihn der Schock davor. Der Pfeil hatte ihn gegen den Baumstamm genagelt! Er musste ihn durchbrechen, musste sich befreien …
»Heb deine Hand und du bist tot«, zischte eine Stimme aus dem Dunkel. Sie war voller Hass, und Nodon zweifelte nicht daran, dass der nächste Pfeil sein Leben beenden würde. Er verharrte bewegungslos. Wer war das? Die Stimme klang rau und wild. Doch da war ein vertrauter Unterton.
»Nandalee?«
Ein Schattenriss erschien vor ihm unter den Bäumen. Die Gestalt ging leicht geduckt. Deutlich sah Nodon den Bogen. Ein neuer Pfeil lag auf der Sehne.
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