Er schielte auf die Liste, die in der offen stehenden Schublade des Tisches lag. Die letzten Zahlen aus den Kreisen, die er sich im Übrigen nicht direkt von den Kuratoren besorgt hatte, sondern heimlich, durch Spione. Der ruhigste Kreis war ausgerechnet Altyza. Noch gestern hatte Egre am besten dagestanden. Am schlimmsten hatte es …
Er fasste sich an die Schläfe. Fedora sah zu ihm herüber, doch er erwiderte ihren Blick nicht.
Am schlimmsten hatte es Odnyza getroffen. Und die Lage spitzte sich weiter zu. Der Statthalter von Odnyza hatte Kurator Mawyn sogar schon eine offizielle Anfrage geschickt, ob …
Antor, der Kurator aus Egre, endete. Er blieb kurz stehen, um alle Anwesenden nacheinander zu betrachten. Dann setzte er sich, genauer: er plumpste auf den Stuhl. Er zeichnete sich durch ein gewisses Ungeschick aus, in seinen Bewegungen und in der Kleidung, jedoch nie in seinen Taten. Zumindest auf Antor durfte Klawdi zählen.
Foma, den Antors Rede gekränkt und verletzt hatte, verzog seinen großen weichen Mund zu einem giftigen Lächeln. Er verlangte Revanche und bekam nach Klawdis Dafürhalten weiche Knie. Zu viel hatte er auf eine Karte gesetzt — und konnte nun in der Tat erst recht rausfliegen.
Alle sahen Tanas an, den Kurator aus Rydna. Die erste halbe Stunde war längst vorbei, jetzt kam der Zeitpunkt für sein gewichtiges Wort.
Tanas hüllte sich jedoch weiter in Schweigen. Beide Winkel seiner dünnen Lippen wiesen nach unten. Der eine stärker, der andere schwächer. Alle warteten. Tanas schwieg.
Was tun wir hier eigentlich, dachte Klawdi angeekelt. Einen akrobatischen Tanz führen wir auf, unter Einbeziehung eines hohen Stuhls. Dem einen helfe ich auf den Sitz, den anderen schubse ich runter. Du klettere ruhig auf den Sitz, während ich mich neben die rechte Armlehne stelle, und unser Freund hier soll sich neben die linke stellen. Dann stoße ich dich mit seiner Hilfe runter und schiebe ihn auch weg, woraufhin sich ein neues Gesicht neben die Armlehne stellt …
Er wollte schon den Mund öffnen, um die Pause zu verkünden, als er sah, dass sich der Kurator aus Bernst langsam und — wie immer in sich selbst versunken — entrückt und bleich von seinem Stuhl erhob.
Die Hexen nannten ihn, Wikol, eine eiserne Schlange. Ein eisernes Wesen, das mit seinen Gelenken klirrte und am Ende selbst das wendigste Huhn schnappte. Erbarmungslos konnte er einen erwürgen, in null Komma nichts.
Klawdi mochte Wikol nicht. Gerade weil er so entrückt wirkte. Ein unbeteiligter Inquisitor — das ging einfach über Klawdis Horizont.
»Herrschaften!« Mit dieser gefühllosen Stimme sprach Wikol auch mit seinen Hexen. »Nach dem Erhalt des Befehls des Großinquisitors bezüglich der außergewöhnlichen, die Hexen aller Kategorien betreffenden Maßnahmen und insbesondere nach einem entsprechenden Versuch, diese auch zu realisieren, bin ich nicht minder verärgert als Kollege Foma.«
Wikol verstummte. Vermutlich konnte eine einzige dieser Pausen selbst die hartnäckigste Hexe im Schweiß schwimmen lassen.
»Herrschaften! Ich sehe mich gezwungen einzugestehen, dass die durch den Großinquisitor vorgeschlagenen Maßnahmen längst nicht ausreichen. Wir stehen vor einem Abgrund, Herrschaften, vor dem wir nur zu gern die Augen verschließen wollen.«
Die eintretende Stille durchbrach ein langer, ein ungebührlich langer Seufzer.
Niemand wandte sofort den Kopf. Alle zählten innerlich bis fünf, manche sogar bis sieben, erst dann gestatteten sie sich, Fedora Ptach anzusehen, die zweite Kuratorin von Odnyza, die — wie alle wussten — ehemalige Geliebte von Klawdi Starsh.
Der Einzige, der sich nicht rührte, war Klawdi. Starr hielt er den Blick auf den obersten Knopf am Jackett von Kurator Wikol gerichtet.
Wikol wartete eine Minute. Seine Stimme klang völlig unverändert, als er, die schweigende Runde betrachtend, klar und deutlich fortfuhr: »Das veränderte Verhalten der Hexen lässt sich weder mit dem schlechten Wetter noch den schlechten Zeiten oder irgendeinem Fehler erklären. Ich hoffe, der Großinquisitor ist weitsichtiger als wir alle und hat sich seine eigenen Gedanken zu diesem Problem gemacht.«
Erst da schaute Klawdi zu Fedora hinüber. Sie sah besser aus. In den zwei Wochen, in denen sie sich nicht gesehen hatten, hatte sie fraglos zugenommen. Angeblich sollen Frauen ja häufig zu viel essen, wenn sie Kummer haben.
Die paar Pfunde mehr standen Fedora. Sie glätteten eine gewisse Härte in ihrem Gesicht, rundeten die Schultern, vergrößerten offenbar sogar die Brust.
Woran dachte er jetzt schon wieder?! Ob das seine fabelhaften »eigenen Gedanken« waren, die er seinen Kollegen auch gleich mitteilen sollte?!
In Fedoras schönen Augen lag — wenn auch nicht an der Oberfläche, sondern tief innen — eine weniger schöne Panik.
»Du verstehst das doch, nicht wahr? Das, was hier vor sich geht? Du kannst dem doch Einhalt gebieten, oder?«
»Vielleicht trage ich hiermit zu Ihrer Erheiterung bei«, ergriff Klawdi nun mit unaufgeregter Stimme das Wort, »aber offenbar steht uns nicht mehr und nicht weniger als die Ankunft der Mutterhexe ins Haus.«
… In der Scheune roch es nach Heu und Erde. Und nach feuchtem Brennholz.
Das Scheunendach war so verbeult wie ein alter Kessel, Löcher und Ritzen klafften darin. In die Löcher schoss mit scharfen Strahlen Licht. Mondlicht.
Nein, das war kein Dach. Das war der Himmel. Und die nadelgleichen Strahlen, das waren die Sterne.
Ywha rannte, den Kopf zurückgeworfen, den Weg nicht einmal witternd. Dennoch stieß sie nirgendwo an, als führten ihre Beine das Kommando.
Den Strahlen am schwarzen Himmel, diesen Nadeln, gesellte sich eine weitere hinzu, die sie in der Hand hielt.
Ein Reigen leuchtender Flecken — bis es düster wurde.
Die Menschen, diese silbrigen Schatten, waren an den Himmel gepinnt, mit einem Nagel mitten durchs Herz. Ohne den Silbernagel in ihrer Brust zu berühren, schwebten sie dort. Ywha musste blinzeln, vertrieb die Tränen. Nein, das sind doch keine Menschen, das sind nur Sterne! Noch einmal blinzelte sie. Das sind … Schatten, aufgespießt auf weiße Nadeln. Weiß-hellblaue Schatten, weiß-rosafarbene Schatten, grünliche …
Was für ein malerischer Anblick!
Ywha lachte auf. Die lange Nähnadel zitterte in ihrer Hand.
Ein schöner Mann mit weichem, weißem Haar löste in Ywha, obgleich sie ihn nicht kannte, einen irrsinnigen Hass aus. Sie nahm ihn genau wahr, diesen Geruch von Hass. Den Geruch von Eisen.
Inmitten all der anderen Sterne prangte ein scharfzackiger.
Sie streckte sich aus. Und sie beobachtete, wie die spitzen Nadeln und der scharfzackige Stern eins wurden.
Ywha stach zu. Die Nadel bohrte sich bis zur Hälfte in den Himmel, dann rutschte sie wieder heraus. Verrostet.
Der Stern trübte sich ein.
Ein Windhauch ging. Der Geruch nach geschmolzenem Paraffin breitete sich aus. Kerzen, Kampferalkohol, ein bleiches, unbekanntes Gesicht. Lachend warf Ywha die verrostete Nadel in einen Brunnen.
Das weiße Auge des Mondes lugte aus einer fernen, tief in der Erde gelegenen Schale heraus. Ein Mond, der am Boden des Brunnens lag, eine verrostete Nadel, die das unzufriedene Auge des Mondes piekte.
Ywha fühlte sich schwerelos. So schwerelos wie nie zuvor. Die Erde lag weiter unter ihr. Mit dem Mund fing Ywha den Wind ein, der, selbst als er ihr bereits in die Lungen drang, Wind blieb. Kalt und wild.
Eine Kristallerde. Ywha sah, wie das tief in der Erde liegende Muttermal bläulich aufschimmerte. Wie eine Truhe, von Wurzeln umflochten, wie es trüb ergelbte, menschlichen Knochen ähnlich, die vergessen am Grund einer Schlucht weißten.
Jedes Geräusch fehlte, nur Gerüche gab es. Die unendlich vielfältigen Gerüche des Windes.
Ywha lachte.
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