Sergej Lukianenko - Das Schlangenschwert

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Als Tikki seine Eltern verliert, hält ihn nichts mehr auf seinem verstrahlten Planeten. Deshalb heuert er auf einem Raumtransporter an. Auf Neu-Kuweit scheint alles besser. Tikki findet wieder so etwas wie Heimat und einen Freund. Doch dann wird er unversehens in einen Staatsstreich hineingezogen: Die undurchsichtige Inna Snow will die Alleinherrschaft über das Imperium an sich reißen. Dafür kämpft sie mit allen Mitteln und manipuliert die Gehirne der Bewohner von Neu-Kuweit. Einige wenige, darunter auch Tikki, sind dem Hypnose-Anschlag Inna Snows entgangen. Sie gehen in den Untergrund, um den Gegenschlag vorzubereiten. Angeführt werden sie von den Sternenrittern, den erbittertsten Gegnern Snows. Sie haben Tikki für eine ganz besondere Aufgabe ausgewählt: Er soll sich direkt ins feindliche Lager wagen und Inna Snow ausspionieren. Hilfe erwarten kann Tikki nur von seinem Schlangenschwert: einer mächtigen, lebendigen Waffe, die sich ihren Träger selbst aussucht — für immer.

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Sergej Lukianenko

Das Schlangenschwert

Prolog

Es war der Tag, an dem sich meine Eltern für den Tod entschieden. Das Sterberecht wird ihnen durch unsere Verfassung garantiert.

Ich war ahnungslos.

Es ist sicher kaum zu glauben, aber mir kam bis zum Schluss nicht in den Sinn, dass meine Eltern aufgeben könnten. Mein Vater hatte vor über einem Jahr seine Arbeit verloren, sein Anspruch auf Unterstützung endete, aber meine Mutter arbeitete noch in den Dritten Staatlichen Minen. Ich wusste nicht, dass die Dritten Staatlichen schon seit langem am Rande des Bankrotts dahinvegetierten. Der Lohn wurde in Naturalien ausgezahlt: in Form von Reis, den ich verabscheute, und durch Begleichung der Miete, worum ich mich noch nie gekümmert hatte. Aber so lebten viele. Es gab in der Schule nur wenige Kinder, bei denen beide Eltern Arbeit hatten.

Ich kam vom Unterricht zurück. Warf die Mappe aufs Bett und schaute vorsichtig ins Wohnzimmer, aus dem leise Musik zu hören war.

Zuerst dachte ich: Vater hat endlich Arbeit gefunden!

Mutter und Vater saßen am Tisch, der mit einer weißen Tischdecke gedeckt war. In der Mitte brannten Kerzen in einem antiken Kerzenständer aus Kristall, der nur an Geburtstagen und zu Weihnachten benutzt wurde. Auf den Tellern waren Essensreste — echte Kartoffeln, echtes Fleisch. Vater hatte seinen noch halb vollen Teller von sich geschoben. Es kam selten vor, dass er etwas übrig ließ. Auf dem Tisch standen eine halb volle Wodkaflasche mit echtem Wodka und eine fast leere Weinflasche.

»Tikki«, rief mich Vater, »komm schnell essen!«

Ich heiße Tikkirej. Das ist ein sehr wohlklingender Name, aber verteufelt lang und unbequem. Mama ruft mich manchmal Tik, Vater Tikki. Meiner Meinung nach wäre es für sie einfacher gewesen, vor dreizehn Jahren einen anderen Namen auszusuchen. Obwohl — mit einem anderen Namen wäre ich auch ein anderer Junge.

Ich setzte mich, ohne zu fragen. Vater mag kein Nachfragen. Ihm gefällt es, wenn er von sich aus die Neuigkeiten erzählen kann. Sogar dann, wenn es nur um so eine Kleinigkeit wie ein neues Hemd für mich geht. Mama versorgte mich schweigend mit einem Berg Kartoffeln und Fleisch und stellte die Flasche mit meinem Lieblingsketschup neben den Teller. Also leerte ich in voller Zufriedenheit meinen Teller, bis Papa meine Ahnungslosigkeit beendete.

Eine Arbeit hatte er nicht gefunden.

Für Leute ohne Neuroshunt gibt es jetzt überhaupt keine Arbeit mehr.

Sie müssten sich einen Shunt einsetzen lassen, aber bei Erwachsenen ist das eine sehr gefährliche und teure Operation. Und Mutter bekommt kein Geld ausbezahlt, also können sie nicht einmal mehr die Lebenserhaltungssysteme bezahlen. Dabei ist es völlig klar, dass man auf unserem Planeten nur unter den Kuppeln leben kann.

Also wird uns die Wohnung gekündigt und wir werden in die Außenansiedlung gezwungen. Ohne den Schutz der Kuppeln können normale Menschen ein oder zwei Jahre überleben — wenn sie großes Glück haben.

Deshalb haben die beiden ihr Verfassungsrecht in Anspruch genommen…

Ich saß da und war regelrecht versteinert, ich konnte nicht sprechen, sah die Eltern an und rührte mit der Gabel in den Kartoffelresten herum, die ich gerade mit Ketschup vermengt und in einen roten Brei verwandelt hatte. Ich nehme eben gern zu allem Ketschup, obwohl ich deshalb ausgeschimpft werde…

Jetzt schimpfte niemand mit mir.

Ich hätte sicherlich sagen müssen, dass wir lieber alle zusammen ins Außenleben gehen sollten. Wir würden peinlich genau die Desinfektion durchführen, wenn wir aus der Erzgrube zurückkehrten, und so noch lange, lange leben und genug Geld verdienen, um wieder ein Lebensrecht unter der Kuppel zu erwerben. Aber ich konnte es einfach nicht aussprechen. Ich erinnerte mich an die Exkursion zum Bergwerk, die wir einmal gemacht hatten. Erinnerte mich an die Menschen mit grauer Haut voller Geschwüre, die in den alten Bulldozern und Baggern saßen. Erinnerte mich daran, wie ein Bagger wendete und aus der Grube heraus unserem Schulbus entgegenfuhr und dabei mit der Baggerschaufel grüßte. Und aus dem Führerhaus heraus lächelte ein Baggerführer mit einem »Krokodilmaul«, das sich bei allen Verstrahlten ausbildet. Er wollte uns natürlich einfach nur erschrecken, aber die Mädchen schrien und auch die Jungen bekamen eine Gänsehaut.

Und ich sagte nichts. Überhaupt nichts. Mama fing entweder an zu lachen und mich auf die Stirn zu küssen oder erklärte sehr ernst, dass jetzt mein Nutzungsrecht für die Lebenserhaltungssysteme um sieben Jahre verlängert wurde und ich es schaffen würde, groß zu werden und einen Beruf zu erlernen. Mein Neuroshunt wäre sehr gut, sie hätten damals viel Geld verdient und es sich etwas kosten lassen, also würde es keine Probleme mit der Arbeit geben. Hauptsache, ich würde nicht in schlechte Gesellschaft geraten, keine Drogen nehmen, immer höflich zu Lehrern und Nachbarn sein, rechtzeitig die Kleidung waschen und sauber halten sowie die staatlichen Lebensmittelkarten beantragen.

Sie begann erst dann zu weinen, als Papa, so als ob er meine Verzweiflung spüren könnte, sagte, dass sich die Entscheidung nicht rückgängig machen ließe. Nachdem die Eltern ihren Tod beantragt hatten, wurde ihnen ein spezielles Präparat verabreicht, worauf sie auch ihre »Abschiedsprämie« erhielten. Das heißt, sogar wenn es sich die Eltern anders überlegen sollten, müssten sie sterben. Aber dann würde man mir nicht das Nutzungsrecht für die Lebenserhaltungssysteme verlängern.

Ich hatte keinen Appetit mehr. Kein bisschen. Obwohl es noch Eis, Torte und Konfekt gab. Mama flüsterte mir ins Ohr, dass sie von der »Abschiedsprämie« meine Geburtstagsfeier für sieben Jahre im Voraus bezahlt hätten. Ein spezieller Mitarbeiter des Sozialdienstes würde herausfinden, was ich für ein Geschenk möchte, es kaufen, mir zum Geburtstag bringen und das Geburtstagsessen zubereiten.

Auch wenn unser Planet arm und unwirtlich ist, sind die Sozialdienste nicht schlechter organisiert als auf der Erde oder dem Avalon.

Das Eis aß ich dann trotzdem. Mama schaute so bittend und mitleiderregend, dass ich die kalten, süßen, nach Erdbeeren und Äpfeln duftenden Stücke herunterschluckte, obwohl ich fast daran erstickte.

Im »Haus des Abschieds« wurden die Eltern am frühen Morgen erwartet. Wenn sie es bis Mittag herauszögern würden, müssten sie auch so sterben, dann allerdings qualvoll.

Ich lag bis drei Uhr nachts wach und schaute auf meine Uhr in Form eines Roboters. Er blinkte mit strengen Augen, schwenkte die Arme, schritt auf der Stelle und ließ manchmal die feine Spitze seines »Laserschwerts« durch das Zimmer wandern. Mama beklagte sich immer, dass es unmöglich sei, mit »diesem Unfug« im Zimmer zu schlafen, verlangte aber niemals, den Roboter abzuschalten. Sie erinnerte sich immer daran, wie ich mich gefreut hatte, als sie mir diese Uhr zum achten Geburtstag schenkten.

Erst da bemerkte ich, dass ich an die Eltern im Präteritum dachte, als ob sie schon gestorben wären. Ich sprang auf, riss die Tür auf und rannte zu ihnen ins Schlafzimmer. Ich bin nicht mehr klein. Ich verstehe alles. Und was Erwachsene, auch die Eltern, nachts machen, weiß ich genau.

Aber ich konnte nicht mehr allein sein.

Ich warf mich ins Bett zwischen Mama und Papa. Bohrte mein Gesicht in Mamas Schulter und fing an zu weinen.

Sie sagten nichts. Weder Mama noch Papa. Sie umarmten und streichelten mich. Da spürte ich, dass sie lebten. Aber nur noch bis zum Morgen. Ich beschloss, dass ich heute nicht schlafen würde, schlief aber trotzdem ein. Am Morgen machte Mama meine Schulsachen fertig. Sie bestand darauf, dass ich unbedingt zum Unterricht gehen solle. Sie bräuchten keine Begleitung. Ein langer Abschied würde nur überflüssige Tränen bedeuten.

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