»Hat man dir dafür etwas versprochen? Geld? Irgendeine andere Bezahlung?«
»Ich habe niemandem etwas Böses getan«, sagte die Frau tonlos. »Keinem Menschen.«
»Soll ich vielleicht annehmen, du hättest etwas Gutes vollbracht? Du bist vor zwei Jahren initiiert worden. In diesen beiden Jahren hast du dir nichts zuschulden kommen lassen. Den Hexentrank können wir hier getrost außer Acht lassen. Warum hast du dir jetzt das Vieh vorgenommen? Warum ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt? Fünfhundert tote Schafe innerhalb einer Woche, von zwei vollständig ruinierten Höfen ganz abgesehen …«
Der Inquisitor erhob sich. Einen kurzen Augenblick schob sich sein von der Kapuze verhüllter Kopf zwischen Ywha und die Fackel. Die verhörte Hexe prallte zurück.
»Ich habe bereits alles gesagt. Dem ist nichts hinzuzufügen.«
Der schwarze Stoff verhüllte das Gesicht des Inquisitors bis zum Kinn. Hinter den schmalen Sehschlitzen herrschte undurchdringliche, mit Händen greifbare Dunkelheit. Nun stand er unmittelbar vor der Hexe. Ohne Frage kostete es sie gewaltige Anstrengungen, nicht zurückzuweichen.
»Gut, Orpyna. Warst du auf Hexensabbaten?«
Die Hexe zögerte, nickte am Ende jedoch gequält.
»Hast du mal unter Bluthochdruck gelitten?«
Wieder eine Pause. Und wieder schüttelte die Hexe am Ende gequält den Kopf.
»Hast du oft Kopfschmerzen? Fällst du ohne Grund in Ohnmacht?«
»N-nein.«
»Denk an etwas Gutes.«
Ywha erstarrte in ihrem Versteck. Mit einer geschmeidigen, katzenartigen Bewegung legte Klawdi der geradezu betäubten Hexe die Hände auf die Schultern. Kaum merklich zuckte die Frau zusammen, ihre Lippen öffneten sich ein wenig und entblößten scharfe, feucht schimmernde Zähne. Die Augen … Im Halbdunkel konnte Ywha sie nicht richtig erkennen. Die Hexe stand da, aufrecht und die Hände vor die Brust gepresst; sie schien durch den in sein Gewand gehüllten Mann hindurchzusehen.
»Ywha.«
Sie erschauderte.
»Komm her.«
Sie zwang sich, nach dem Rand des Gobelins zu fassen, ganz vorsichtig, um ja das Zeichen nicht zu berühren. Kaum traf ihr Blick auf die dunkle Kapuze, da schaute sie schon weg.
»Ein Inquisitor muss schrecklich aussehen. Stell dir vor, du wärst beim Fasching. Wollen wir uns an die Arbeit machen? Du hast doch keine Angst, oder?«
»Nein«, versicherte Ywha, wobei ihre Stimme jedoch wenig überzeugend klang.
»Ich zwinge dich nicht«, erklärte der Inquisitor sanft. »Aber es wäre sehr schön … wenn wir gemeinsam einen Durchbruch erzielen könnten. Das verstehst du doch, nicht wahr?«
»Was soll ich tun?«
»Ich werde alles tun. Ich brauche ihre Gründe, ihre wahren Motive. Von sich aus sagt sie nichts, die Folter widert mich an und bringt uns meist kaum weiter; ihre Seele kann ich nicht knacken, die hat sie gut verriegelt. Deshalb werde ich sie spiegeln — und zwar in dir. Denn erstens bist du auch eine Hexe, und zweitens bist du ausgesprochen empathisch. Mit den technischen Details werde ich dich nicht belästigen. Stell dir einfach vor, du seist ein Spiegel. Ist das so weit klar?«
Ywha grinste. Ein Bild aus ihrem Physiklehrbuch fiel ihr ein, ein Schnitt durch ein Periskop. »Wir spielen Periskop, oder?«
Endlich streifte er die Kapuze ab.
Sein Gesicht war angespannt. Müde und böse.
… Es war kalt.
Als Erstes nahm sie die schneidende Kälte wahr. Die Feuchte. Dunkle, auseinanderdriftende Linien umsponnen sie. Kein Geräusch entstand, keine Berührung kam zustande, als Grashalme wegknickten, hohe Stängel, die sich in den Himmel bohrten. Sie rannte über eine Wiese, in ihrer Hand, fest in ein Bündel eingeschnürt, lag etwas Lebendiges, das mit den Flügeln schlug. Ein Vogel.
Sie wollte sich das nicht weiter ansehen. Voller Wucht schlug die Angst über ihr zusammen: wie ein Schwimmer, der sich vom Boden abstößt, nach oben schnellt, zur Sonne.
Die Sonne. Nicht warm, aber blendend grell, schmerzte sie in den Augen. Ein kahler Hügel, ohne jedes Gras. Von ihren Händen tropfte eine ölige Flüssigkeit.
Nein, das war nicht die Sonne, sondern der Mond, rund und dick wie ein Fass. Im Schatten schief stehender Bäume krümmte sich ein Haus. Nach wie vor fehlte jeder Laut, ihren Platz nahmen Gerüche ein. Es roch stark nach Dung, schwächer nach verfaultem Holz. Und kaum noch wahrnehmbar nach Metall — denn sie hielt ein spitzes Messer in Händen. So mühelos drang die Schneide ins Holz, als handle es sich um lockere Erde. Liebevoll fuhren ihre Hände über den Griff. Seltsame, ungewohnte Bewegungen …
Der Messergriff wurde feucht. Und warm.
Ein tropfendes Geräusch.
Weiße schwere Tropfen fielen in einen Blecheimer. Es war ein Melkeimer. Immer schneller arbeiteten ihre Hände. Was tat sie da? Ein rhythmisches Ziehen und Pressen. Sie melkte den Griff des Messers … Melkte … Von ihren Fingern tropfte Milch, pladderte in den Eimer und schwappte manchmal über ihre Ärmel.
Obwohl ihr die Finger lahm wurden, vermochte sie nicht aufzuhören. Berauscht war sie, verlangte nach mehr, immer mehr …
Die Milch versiegte. Zischte nicht mehr in Strömen, tröpfelte kaum noch, füllte den Eimer nur mit Mühe …
Wieder spürte sie die Wärme. Die satte Zufriedenheit. Eine warme Flüssigkeit netzte ihre Hände, keine weiße, sondern eine schwarze.
Schwarze Tropfen fielen in den vollen Melkeimer.
Rote Tropfen. Ihre Händen wurden klebrig.
Angst keimte auf.
Sie hörte den eigenen Schrei nicht.
Ihre stumme Angst roch. Sie roch nach Eisen.
Wieder behielt er sie über Nacht bei sich. Letztlich war es ihm gleich, was man von ihm dachte. Vor allem angesichts des letzten Gesprächs mit Seiner Durchlaucht, dem Herzog.
Der Herzog wusste viel, zum Glück jedoch nicht alles. Seit geraumer Zeit schon befleißigte sich Klaw einer doppelten Buchführung. Das war zwar heikel und infam, doch wenn der Herzog — schlimmer noch die Allgemeinheit — die wahren Zahlen wüsste …
Nachdem er die Berichte aus den Provinzen für die letzten drei Tage gelesen hatte, presste Klaw die Lippen zusammen und befahl Hljur, die Angaben zu überprüfen.
Es stimmte alles. Hexensabbate waren gefeiert worden, von denen sie vorab nicht einmal etwas geahnt hatten, Initiationen im großen Maßstab hatten nicht verhindert werden können. Schwerer noch wog allerdings die hohe Zahl von Todesfällen, auf die sie sich keinen Reim machen konnten.
Irgendwann rief Fedora an. Ein Ferngespräch aus Odnyza.
Klawdi presste die Zähne aufeinander. Einen schönen Beichtvater hatte sie sich da ausgesucht, einen fürwahr vortrefflichen Beschützer! Ausgerechnet diese starke und unerschrockene Frau. Ein Monolog, gespickt mit »wenn einer was weiß, dann du«, »wenn einer das wieder ins Lot bringt, dann du«, »wenn einer unseren Schutz garantiert, dann …« und als Zugabe: »Kann ich zu dir kommen?«
Klawdi kratzte sich das Kinn.
Morgen früh würde in Wyshna der Rat der Kuratoren zusammentreten. Wer wohl den Brandgeruch bereits gewittert hatte? Genauer: Wer ihn wohl bisher noch nicht gewittert hatte? Wer wohl gegen den Großinquisitor auftreten und ihn bezichtigen würde, ein Protektionist zu sein, ein tödliches, verantwortungsloses und geschmackloses Spiel zu spielen?
Wobei: Im Grunde war selbst das ihm egal. Er wusste ohnehin, wer das sein würde. Der frisch eingesetzte Kurator von Rjanka war ihm treu ergeben, aber Mawyn, der Kurator von Odnyza, fürchtete ihn; mit dem Kurator von Egre verband ihn wiederum eine alte Freundschaft. Den Kurator von Bernst hatte er wiederholt abgekanzelt, und auch den Kurator von Korda hatte er erst vor Kurzem öffentlich für sein — wie Klaw meinte — ganz und gar eindeutiges, wiederholtes Versagen gedemütigt. Der Kurator von Altyza war ein junger intelligenter Mann, der sich stets auf die Seite des Stärkeren stellte — bis er selbst als solcher anerkannt wurde. Sein stärkster Gegner im Rat war der Kurator von Rydna, der den Luxus und die Stadt Wyshna nur allzu sehr liebte. Und der Hexen viel zu sehr hasste. Aufrichtig hasste. »Nieder mit dem Abschaum!« Für ihn war das längst nicht nur eine leere Floskel.
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