Dieser arrogante Lenker von Schicksalen. »Zweiundsechzig Prozent … achtunddreißig Prozent … genau das, was in deinem Fall nötig ist.« Woher nahm er nur das Recht, sich ihr gegenüber so zu verhalten, als sei sie ein Versuchskaninchen? Nein, eine Mikrobe. Als sei sie ein Krankheitserreger — und er der gute Onkel Doktor.
Die Wut packte sie plötzlich und grundlos. Die pralle Blase, jene Behausung all ihrer Verluste, Erniedrigungen und Ängste, platzte einfach.
Sie knirschte mit den Zähnen. Vor ihren Augen hing ein roter Schleier. Konnte in einem einzigen Menschen wirklich so viel Hass stecken? Wollte sie das alles tatsächlich stumm und widerstandslos ertragen, die Zähne immer aufeinandergepresst?
Auf einmal stürzte sie sich auf die Haare des Mannes, der am Steuer saß.
Und sie hätte sich in ihnen verkrallt — wenn er nicht im letzten Augenblick noch seitlich ausgewichen wäre, ihre Hand abgefangen und sie an sich gerissen hätte. Das Auto schlingerte. Die Hand des Inquisitors packte ihr Genick und presste ihr Gesicht an seine harte Schulter.
»Du Henker!«
Sie riss sich los. Das Auto geriet erneut ins Schlingern. Ywha sah sich schon nach vorn sausen, gegen das Steuer prallen und mit den Füßen die Windschutzscheibe einschlagen.
»Henker! Dreckskerl! Schwein! Arschloch! Lass mich …«
Der raue Bezug des Sitzes verschloss ihr den Mund. Ihre Hände, die ihn kratzen und an den Haaren ziehen wollten, erschlafften im Schmerz. Es fühlte sich an, als drehe ihr jemand den Kopf von den Schultern — so wie man eine Flasche entkorkte.
»Henker!«
Das Auto fuhr jetzt langsamer und blieb schließlich ganz stehen. Ywha wollte heraushechten. Die Strähnen ihres roten Haars verhakten sich jedoch so an einem Knopf von Klawdis Kragen, dass sie zurückgerissen wurde und sich beinah selbst skalpierte. Tränen schossen ihr in die Augen.
»Ihr alle«, zischte sie ungeachtet der Schmerzen, »ihr alle seid … Ich hasse euch. Wie Wanzen könnte ich euch zertreten … ihr Henker …«
Für kurze Zeit sah sie nichts mehr. Vielleicht lag das am Tränenschleier, vielleicht wurde ihr auch einfach schwarz vor Augen. Die Tür, gegen die sie geknallt war, als sie aus dem Auto springen wollte, gab plötzlich nach. Ywha fiel an den Straßenrand.
Der Nebel vor ihren Augen lichtete sich. Aus einem einzigen Grund: damit sie den Stein bemerkte, der in der Nähe lag. Schmerzverkrümmt hob sie ihn auf und schleuderte ihn gegen den teuren Wagen. Im Seitenfenster bildeten sich Hunderte von Rissen, es büßte seine gläserne Klarheit ein. Schlagartig erfasste Ywha hämische Freude. Da sie keinen weiteren Stein fand, klaubte sie eine Handvoll Kiesel auf.
»Habe ich … dir … etwas getan? Bin ich dir in die Quere gekommen? Bin ich eine Verbrecherin? Eine Diebin? Nie habe ich jemandem … Und du willst mir vorschreiben, wie ich zu leben habe? Willst du es Nasar auch … Bin ich vielleicht irgendjemandem was schuldig?!«
Auf dem schmalen Weg fuhr kein einziges Auto, nur über die weiter entfernte Chaussee rumpelte ein grauer Laster. In der Ferne tollte ein herrenloser Hund übers Feld. Der Inquisitor stand da, lehnte sich gegen die Motorhaube und musterte die auf dem Boden hockende Ywha von oben bis unten.
»Ich habe keine Angst vor dir!« Unerschrocken blickte sie ihm in die zu Schlitzen verengten Augen. »Ich habe vor niemandem Angst. Hast du verstanden, du Arsch?«
Der Inquisitor schwieg.
Mühevoll rappelte sie sich hoch. Vor ihm wollte sie nicht auf den Knien liegen.
»Du … feiger Hund! Von nichts hast du … Wir hätten einen Sohn bekommen! Nasar und ich! Jetzt ist alles aus, aus und vorbei … Und? Freust du dich? Dass wir nicht … dass wir nie … niemals einen … dass ich jetzt … niemals! Ja, du freust dich! Weil du … Hast du überhaupt jemals jemanden geliebt? Nein, dazu bist du gar nicht imstande, denn dir hat man ja die Seele abgesäbelt, die ist überhaupt nicht mehr vorhanden …«
Plötzlich sah sie klar und deutlich einen Morgen vor sich, Sonnenflecken lagen auf dem Boden, gedämpft klirrte Geschirr, eine Kaffeemaschine brummte, es roch nach Milch. Sie bleckte die Zähne und jagte das Bild fort. Hass zog ihr die Kiefer zusammen, als beiße sie auf eine unreife, harte Stachelbeere.
»Ich habe nie etwas verlangt! Jedenfalls nichts Besonderes! Ich wollte nur in Ruhe gelassen werden … wollte, dass man mich einfach mein Leben leben lässt … Millionen Menschen dürfen ein friedliches Leben führen! Aber irgendein Arsch hat beschlossen, dass ich anders bin, irgendein Wurm … Oder bin ich etwa schon als Monster auf die Welt gekommen? Na?!«
Sie glaubte, die Tränen in ihren Augen würden gleich anfangen zu kochen, derart heiß brannten sie.
»Aber nein! Du musstest mich ja verhaften … unterdrücken, quälen … dich durchsetzen … du gemeine Spinne … du mieser Henker … du Stinker … und Verräter!«
Wie sie auf den letzten Vorwurf kam, wusste sie selbst nicht; das Wort war ihr einfach entschlüpft, aufs Geratewohl. Nun glaubte sie jedoch zu sehen, wie das Gesicht des Inquisitors zitterte. Einen kurzen Moment nur. Von diesem Sieg inspiriert, verzog sie die Lippen zu einem Hohnlächeln. »Das hörst du nicht gern, oder? Die Wahrheit schmeckt bitter, nicht wahr? Die ist nicht süß wie Honig?«
Sie meinte, in einem dunklen, engen Labyrinth gegen etwas gestoßen zu sein — mit dem sie ihn tatsächlich verletzen konnte. Vielleicht sogar töten.
»Du Henker und Verräter. Dafür wirst du noch büßen! Dafür … dass du sie verraten hast!«
Sie hatte keine Ahnung, wovon sie da redete. Aber fraglos befand sie sich auf der Zielgeraden: Der Inquisitor erbleichte. Nie hätte Ywha vermutet, dass er so leichenblass werden konnte.
»Genau! O ja, man wird sich an dich erinnern, denn du bist ein verrückter Sadist, denn dir ist nur noch eine Freude im Leben geblieben, nämlich zu foltern … Sogar die Frauen …« Sie verschluckte sich, fuhr aber dennoch fort. »Diese Frauen, die du in dein Sexodrom schleppst … die quälst du doch auch, nicht wahr? Als ob sie Ratten wären! Anders kommst du nämlich nicht auf deine Kosten!«
Sie musste tatsächlich seine empfindliche Stelle getroffen haben. Jetzt wollte sie ihn ganz erledigen. Der Wunsch war so stark, dass sich plötzlich Worte auf ihre Zunge legten, die sie normalerweise nie im Leben gebraucht hätte.
»Du hast nichts, womit du lieben könntest! Denn man liebt nicht mit dem, was in der Hose steckt … sondern mit der Seele. Aber deine Seele, die ist nackt. Kastriert! Deshalb quälst du diese Frauen … Weil du dich daran erinnerst, wie du es genossen hast, als sie gestorben ist! Du weißt noch, wie süß das damals war, wie …«
Nicht einmal die Augenbraue zog er hoch. Nur seine Pupillen erweiterten sich — und sogleich traf sie sein Schlag. Ihr wurde schwarz vor Augen, ihr Geschrei erstarb, und aus ihrer Nase rann Blut auf den Pullover. Auch auf den Lippen spürte sie die warme Flüssigkeit, auf den Händen …
Sie hatte Angst vor Blut. Allein bei seinem Anblick fiel sie in Ohnmacht — was diesmal allerdings ihre Rettung bedeutete. Schon in der nächsten Minute kam sie wieder zu sich, mit dem Gesicht im Gras liegend. Ihr Kopf fühlte sich an wie ein Fußball, auf den ein Dutzend in Töpfen steckender Füße eingetreten hatte. In ihren Ohren dröhnten die Schreie von der Tribüne wider, der Zorn, der Beifall …
Sie fing an zu weinen. Nicht aus Mitleid mit sich selbst, sondern einfach weil sie den Schmerz nicht zu ertragen vermochte — der sowohl ihrem Körper wie auch ihrer Seele zusetzte.
Dann drang durch den Lärm des imaginierten Stadions das Brummen eines Motorrads. Es verstummte jedoch, um einer besorgten Stimme zu weichen. »Brauchen Sie Hilfe, mein Herr?«
Eine ruhige Stimme antwortete. Eine vollkommen gefühllose Stimme, die jedes Wort klar artikulierte. Trotzdem gelang es Ywha nicht zu verstehen, wovon sie sprachen.
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