»Hallo, Nasan Gehen wir rein.«
Alle Fenster der winzigen Wohnung standen weit offen, im Hof kreischten Kinder und zwitscherten Vögel. Ein Junge auf einem Fahrrad rief wieder und wieder nach seiner Freundin Ljura.
»Was dann folgte? Dann habe ich ihm eine geschlagene Stunde einen Vortrag zum Thema ›Die nicht initiierte Hexe. Familie, Recht und Alltag‹ gehalten. So leid es mir tut, aber Nasar ist in dieser Angelegenheit erstaunlich inkompetent. Ich habe seine Wissenslücken, so gut es mir möglich war, gestopft.«
»Ljura-a!«, rief der Fahrradfahrer weiter stur. »Kommst du raus?«
Ywha beobachtete den Inquisitor, der Kaffee trank und rauchte. Der Luftzug trieb die graublauen Rauchfäden zum Fenster.
»Ljura-a!«
»Und … was hat er gesagt?«
»Er hat gesagt: Danke .«
Bedauernd machte sich Ywha klar, dass sich all ihre Gefühle auf ihrem Gesicht widerspiegelten. Selbst die, die sie verbergen wollte.
»Auch ich bin … erstaunlich inkompetent. In puncto nicht initiierter Hexen. Früher habe ich zum Beispiel angenommen … dass eine solche Hexe, wenn sie sich nur versteckt, nicht entdeckt werden kann. Von niemandem.« Sie sah ihr Gegenüber fast herausfordernd an.
»Das Unglück besteht darin«, erklärte Klawdi seufzend, »dass eine Hexe, selbst eine nicht initiierte, nun einmal eine Hexe bleibt. Sogar dann, wenn sie niemandem etwas zuleide tut. Sogar dann, wenn sie überhaupt nichts tut. Denn sie könnte etwas anrichten. Das ist der Punkt, an dem sich die Gesetzesväter schon seit Jahrhunderten die Zähne ausbeißen … und auch diejenigen, die die Gesetze in die Praxis umsetzen. Wenn sich ein Mensch nichts hat zuschulden kommen lassen — wofür wollte man ihn dann bestrafen? Allein für die Möglichkeit, dass er in Zukunft etwas Böses tun könnte ?«
»Aber … diese Möglichkeit … wie hoch ist sie eigentlich?« Ywha spürte, wie ihre Kehle immer stärker austrocknete.
»Zweiundsechzig Prozent«, teilte ihr der Inquisitor mit gelangweilter Stimme mit. »Achtunddreißig Prozent werden nie initiiert. Die erliegen der Versuchung nie. Sie leben ein langes, glückliches Leben und haben viele Kinder. Normalerweise sind Hexen nämlich sehr fruchtbar. Und um ihre Gesundheit kann man sie nur beneiden. Häusliche Pflichten vernachlässigen sie völlig, dafür erzielen sie unglaubliche Erfolge in allen Künsten. Sie sind intelligent und ausgesprochen eigen … All das habe ich Nasar gesagt, das kannst du mir glauben. Ich habe sogar übertrieben.«
»Aber wie kriegt man raus …«, Ywha hob den Blick, »… wie kriegt man raus … in welche Kategorie eine Hexe fällt … ob sie zu den Zweiundsechzig oder zu den … Achtunddreißig Prozent gehört?«
»Ljura-a!« Der Junge ließ nicht locker. »Lju-ura! Du sollst rauskommen!«
Der Inquisitor erhob sich, doch da es in der winzigen Küche keine Fluchtmöglichkeit gab, setzte er sich wieder, wenn auch auf das breite Fensterbrett. Die noch nicht ausgetrunkene Tasse Kaffee stellte er neben sich. »Das hat mich Nasar auch gefragt. Fast mit denselben Worten: Im Grunde habe ich ihm das alles schon damals erzählt … äh … als du weggelaufen bist. Aber offensichtlich war er da zu erschüttert, als dass er etwas davon behalten hätte.«
»Ljura-a!«
Der Inquisitor lehnte sich zum Fenster hinaus. »Wenn du nicht gleich rauskommst, kriegst du Ärger, Ljura!«, drohte er mit der Stimme eines Bühnenschurken.
Der fliehende Fahrradfahrer schepperte über die Steine. Offenbar bekam es der junge Herr Verehrer mit der Angst zu tun.
»Das«, meinte der Inquisitor grinsend, »würde ich auch gern wissen, Ywha. Damit ich die Unschuldigen nicht ins Gefängnis stecke und den bösen Hexen nicht die Freiheit schenke. Aber es ist praktisch unmöglich, das zu bestimmen. Es hängt von verschiedenen Umständen ab, von den persönlichen Anlagen, die sich meist nicht vorher erkennen lassen. Ein ruhiges Familienleben mit einem geliebten Mann fördert das Gute in einer Hexe und verhindert meist, dass sie gegen das Gesetz verstößt. Es stellt jedoch keine Garantie dar. Verstehst du das?«
»Und das haben Sie auch Nasar gesagt«, flüsterte Ywha.
»Ist dir schon mal aufgefallen, dass ich versuche, ehrlich zu sein?«, fragte der Inquisitor. »Ihm … und auch dir gegenüber?«
»Vielen Dank.«
»Keine Ursache, Ywha … Was siehst du mich so an?«
»Sie …«, Ywha senkte den Blick, »… haben mein Leben zerstört.«
»Nun übertreib mal nicht.«
»Es wäre nur gerecht, wenn Sie mir jetzt auch … helfen würden.«
»Ich helfe dir, so gut ich kann. Worauf willst du hinaus?«
»Ich will keine Hexe sein.« Ywha verflocht unterm Tisch die Finger, bis es schmerzte.
Eine Pause. Vom Hof stieg fröhliches Getschilpe herauf. Vor dem Nebenhaus unterhielt sich jemand laut. Vermutlich war Ljura doch noch aufgetaucht.
»Wir werden nicht gefragt, was wir sein wollen, Ywha. Ich bin als kleiner Klawdi auf die Welt gekommen, du als die kleine Ywha …«
»Nein. Ich habe gehö … ich weiß, dass man einer Hexe … ihre Hexenschaft entziehen kann. Damit sie wie alle anderen ist.«
Der Inquisitor verzog das Gesicht. Angewidert blickte er in seine Tasse, als fürchte er, dort eine Kakerlake zu entdecken. »Ich kann mir sogar vorstellen, von wem du das gehört hast. Ich wollte sagen, woher du das weißt. Es ist ganz bemerkenswert, wen man heutzutage alles in ein Mikrofon sprechen lässt.«
»Wollen Sie mir etwa weismachen, diese Experimente … hätte es nie gegeben? Man hätte dergleichen niemals versucht? Sich nie damit beschäftigt? Können Sie mir das sagen und mir dabei in die Augen sehen?«
»Lass uns dieses Gespräch beenden«, verlangte der Inquisitor, der die Tasse nun verärgert aufs Fensterbrett knallte. »Du solltest nicht alles glauben, was die Leute im Fernsehen von sich geben.«
An Ywhas immer noch verschränkten Fingern traten die Knöchel weiß hervor. »Und wo bleibt Ihre berühmte … Ehrlichkeit jetzt?«
Ihre Blicke trafen sich. Ywha spürte, wie jäh Übelkeit in ihr aufstieg.
Irgendwann war sich Ywha sicher, der Inquisitor fahre sie direkt ins Gefängnis. Zu dem üblichen Unwohlsein, das seine Anwesenheit in ihr auslöste, gesellte sich nun auch noch das schmerzliche Gefühl hinzu, zum Tode verdammt zu sein, ein Gefühl, das Ywha, die im Fond Platz genommen hatte, natürlich während der ganzen, nicht sehr langen, aber auch nicht gerade kurzen Fahrt zu schaffen machte.
An einer Seite der Windschutzscheibe klebte eine Karte mit einer lustigen, beschwänzten Hexe, die auf einem Besen ritt. Das Bild schien Ywha ein weiteres Beispiel für einen seltsamen, verdrehten Sinn für Humor zu sein. Eine verrostete Feder in ihrem Innern presste sich immer enger zusammen, bis sie aufs Äußerste gespannt war.
Der Inquisitor fuhr betont langsam, aufmerksam und korrekt, fast wie ein Fahrschüler, der zum zweiten Mal hinterm Steuer sitzt. Schon bald ließen sie das Zentrum, in dem Ywha sich eher schlecht als recht auskannte, hinter sich und erreichten die Vorortbezirke, die alle gleich, staubig und fremd wirkten. Als sie an einem Schild vorbeikamen, das das Ende des Stadtgebiets anzeigte, bog der Inquisitor nach rechts ab. Das teure, leistungsstarke Auto zuckelte herrschaftlich über einen löchrigen Feldweg.
Hinter einem jungen Tannenwäldchen versteckte sich ein gelbes Haus, ein niedriges, einstöckiges Gebäude, das gleichermaßen an ein Gefängnis und an eine Cowboyranch erinnerte. Ywha umklammerte mit den Armen ihre Schultern.
»Es schmeckt mir zwar nicht, aber ich werde dir jetzt etwas zeigen«, teilte ihr der Inquisitor mit, ohne sich umzudrehen. »Genau das, was in deinem Fall nötig ist.«
Ywha starrte auf seinen Hinterkopf. Ein akkurater, penibler Haarschnitt. Nichts wollte sie jetzt lieber, als mit einem schweren Hammer auf diesen Hinterkopf einschlagen.
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