Ob sie es wirklich schaffte, sich jene Hexe in dem braunen Kleid als Schülerin an der Tafel vorzustellen, sobald sie, Ywha, panische Angst verspürte?
Und warum versuchte sie nicht, sich den Großinquisitor nackt vorzustellen? Schließlich sind doch unter der Kleidung alle nackt. Und die Falten eines Schrecken gebietenden Gewandes verbergen sowohl das Relief athletischer Muskeln als auch kraftloses, schlaffes Fleisch. Und auch …
Den nervösen Clip im Fernseher löste ein neues Bild ab, die Musik verstummte. Ywha fuhr zusammen.
»Eben! Hexen! Seit einer Woche höre ich nichts anderes mehr, alle reden nur noch von Hexen!«
Das Gesicht des Mannes war gepixelt. Er saß auf einer Parkbank, hinter ihm pickten Tauben im Gras etwas auf, während unmittelbar vor ihm ein rundes schwarzes Mikrofon in der Hand von jemandem aufragte. Die Stimme des Mannes klang affektiert und gleichzeitig herrisch. Der Halter des Mikros stellte ihm leise eine Frage.
»Die Herren Inquisitoren …«, jetzt nahm die Stimme einen sarkastischen Ton an, und Ywha vermutete, dass sich die Lippen hinter dem Sichtschutz boshaft verzogen, »… haben bereits vor vier Jahren unter meiner Federführung ein uneingeschränkt erfolgreiches Experiment durchgeführt. Ich kenne die Frau, ich weiß, wo sie wohnt … Nein, verehrte Journalisten, das werde ich Ihnen noch nicht mitteilen. Aber falls die Oberste Inquisition auch weiterhin jeden Anstand vermissen lässt, werde ich Ihnen eine Kopie des Befehls Nr. 240 — vom Großinquisitor selbst erteilt — präsentieren. Der liegt mir nämlich vor … Ja, meine Herren! Der Inquisition stehen bereits heute Mittel zur Verfügung, die es ihr erlauben, einer Hexe ihre, wenn man so will, Hexenschaft zu nehmen! Sie in gewisser Weise zu reinigen! Nachzubessern! Aber, meine Herren, natürlich würde sich die Inquisition damit ihr eigenes Grab schaufeln. Denn der Apparat der Inquisition braucht doch was zu fressen — genau wie ein durchtriebener Kater, der nicht alle Mäuse im Haus fängt, sondern nur die Hälfte. Sobald es nämlich keine Mäuse mehr gibt, bekommt er von seinem Frauchen keine Sahne mehr! Der ganze Bohei um die Hexen ist doch nichts anderes als ein billiger Vorwand, um mehr Geld zu fordern! Und das geht allein auf unsere Kosten! Auf deine Kosten, mein Junge, und auf meine!«
Der »Junge« war derjenige, der das Mikrofon hielt und gerade eine weitere Frage stellte. Entweder versagte dabei die Technik oder die Fragen des Reporters sollten mit einem ganz bestimmten Hintersinn unverständlich bleiben.
Der Mann auf der Bank antwortete mit einer derart temperamentvollen Geste, dass flüchtig ein spitzes, glatt rasiertes Kinn hinter dem gepixelten Bereich hervorragte. »Meine Herren, Sie alle haben in der Schule das Rechnen gelernt! Ein Programm zur Hexenbehandlung kommt uns wesentlich billiger zu stehen als der Unterhalt für diesen Klüngel ausgemachter Reaktionäre. Da brauchen Sie bloß zwei und zwei zusammenzuzählen!«
Das abgeblendete Gesicht verschwand. Den Bildschirm nahm nun ein junger Mann ein, dessen mützengleich drapiertes, kräftig mit Lack behandeltes blauschwarzes Haar einem Werbespot für das Friseurhandwerk alle Ehre gemacht hätte. Er war Reporter und sprach schnell und kundig, doch Ywha verstand einfach nicht, worum es ging. Eine flüssige, leichte Rede, genauso lackiert wie seine Mähne.
»Sie in gewisser Weise zu reinigen!«
»Denn die Gesellschaft verlangt nach Ordnung, aber sie symbolisieren das Chaos. Sie sind der Hagel, der die Saat vernichtet. Und wer wollte schon versuchen, den Hagel zu verstehen? Sie sind wie ein Wespenschwarm. Ihr Honig ist bitter, ihr Stachel tödlich. Wenn du eine nach der anderen tötest, bringst du sie nur in ihrer Gesamtheit auf. Tötest du dagegen die Mutterhexe, stiebt der Schwarm auseinander.«
Von der unübersehbaren Literatur, die in den letzten dreihundert Jahren über die Hexen vorgelegt wurde, hielten neunzig Prozent nicht ansatzweise der Kritik stand und stützten sich bestenfalls auf Legenden. Im schlimmsten Fall konnte man diese Werke nur als schamlose Lügen bezeichnen. Und die schmalen zehn Prozent der Bücher, die Vertrauen verdienten, hatte sich die Inquisition längst angeeignet.
In den Archiven der Inquisition — Räumen mit konstanter Temperatur und Luftfeuchtigkeit — lagen alte Bände, die bei der geringsten Berührung zu Staub zu zerfallen drohten. Fotokopien dieser Bücher standen Klawdi zum täglichen Gebrauch zur Verfügung. Leider wog die künstlerische Bedeutung dieser versponnenen Texte jedoch stärker als ihr Erkenntniswert. Moderne Untersuchungen in Form wortreicher philosophischer Abhandlungen und grausamer Chroniken voller Details, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen, gaben keine neuen Antworten. Zumindest nicht für Klawdi. Früher hatte er selbst einmal in diesem Bereich geforscht, damals, als er noch als Kurator in Egre, der Hauptstadt des Weins, gearbeitet hatte.
Das gelbe Telefon, dem eine Wählscheibe fehlte, schrillte los. Klawdi verzog das Gesicht, als beiße er auf etwas Saures.
»Zu so später Stunde noch auf Frontposten?« Die Stimme des Herzogs klang entgegen seiner Gewohnheit recht wohlgeneigt.
»Ich lese ein paar Bücher, Eure Hoheit. Um mich zum wiederholten Mal davon zu überzeugen, was für Narren wir doch sind.«
Der Herzog ging jedoch mit keinem Wort darauf ein, sondern ließ dem Inquisitor die Bemerkung als Scherz durchgehen. »Man darf Ihnen wohl gratulieren, Herr Großinquisitor?«, meinte er schließlich. »Offenbar sind selbst die schlimmsten Hexenhasser zufrieden gestellt.«
»Von mir abgesehen, Eure Hoheit. Aber ich war auch nie ein ausgesprochener Hexenhasser.«
»Ihnen dürfte bekannt sein, dass bereits Stimmen laut werden, die die Verletzung der Bürgerrechte beklagen.«
»Den Hexen sind die Bürgerrechte bereits mit der ersten entsprechenden Gesetzessammlung in unserer Geschichte entzogen worden.«
»Sie haben eine bissige Zunge, Klawdi.«
»Das stimmt, Eure Hoheit.«
»Achten Sie darauf, dass die Repressionen gegen die Hexen nicht … niemanden anders treffen. Ich will, dass im Land endlich wieder Ruhe einkehrt.«
»Das wollen wir alle.«
»Wie … wie heißt es doch gleich bei Ihnen? Nieder mit dem Abschaum?«
»Nieder mit dem Abschaum, Eure Hoheit.«
Ein kurzes Tuten. Klawdi legte den gelben Hörer auf die Gabel.
An beiden Ausgängen des Palasts drängten sich Menschen, hauptsächlich ältere Frauen. Keine Demonstranten, sondern Besucherinnen, die den einfachen Angestellten nicht trauten und deshalb den Großinquisitor persönlich zu sprechen wünschten. Klawdi biss die Zähne zusammen. Warum half er nicht auch diesen unglücklichen Müttern, deren Töchter das Pech gehabt hatten, als Hexen in eine ganz normale Familie geboren zu werden — wo er Helena Torka doch so entgegengekommen war?
Wer wohl Ywhas Eltern sind?, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Oder besser, wer waren sie? Denn es wäre doch seltsam, wenn ihre Eltern sie so durch die Welt ziehen ließen, den schmalen Grad zwischen Initiation und Gefängnis entlang.
Er verließ den Palast durch eine dritte Tür, die unterirdisch und geheim war. Innerlich leistete er den geduldig wartenden Menschen Abbitte und stieg in seinen Dienstwagen; fünfzehn Minuten später traf er im Halbdunkel seines Hofes auf einen Mann.
Nur selten kamen Bittsteller hierher — es sei denn, sie waren sehr verzweifelt.
Die dunkle Figur trat auf ihn zu und versperrte ihm den Zugang zum Haus. Klawdi dachte an den Bodyguard im Auto und hob den Arm, um einen Schuss zu verhindern. Dem Mann, der dort vor dem Haus gewartet hatte, jagte die abrupte Geste eine Heidenangst ein. »Klawdi …« Er stolperte zurück.
Was denkt er sich eigentlich dabei?, knurrte Starsh innerlich. Versteckt sich hier im dunklen Hauseingang! Gut, nicht in böser Absicht, sondern einzig und allein aus Dummheit.
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