»Sie sollte auf dem Rücken liegen … nicht mit dem Gesicht nach unten … das macht es nur noch schlimmer …«
Abermals eine gelassene Antwort, allerdings mit einem kaum wahrnehmbaren verärgerten Unterton. Oder kam ihr das nur so vor?
»Gut, mein Herr … Hauptsache, es geht ihr wieder besser …«
Das Geräusch des Motors entfernte sich. Das Gras unter ihrem Gesicht war warm und rot. Oder bildete sie sich auch das nur ein?
Ich bin eine Hexe. Hexen müssen böse sein.
Klawdi sah dem Motorrad nach, bis die grüne, vom Wind zu einer Blase geblähte Jacke hinter einer Kurve verschwand.
Dann wartete er, bis der Regen aufhörte. Idiotischerweise zitterten seine Hände. Gleich würde ihm die Zigarette entgleiten …
Er hegte eine zu hohe Meinung von sich. Hielt sich für einen Mann mit Nerven wie Drahtseilen und einer hundertprozentig zuverlässigen Abwehr. Doch es brauchte bloß das erstbeste Mädchen mit dem Finger auf ihn zu zeigen, und schon stand Klawdi Starsh am Straßenrand, neben seinem leicht lädierten Auto, zitterte und rauchte …
Nur dass es sich hier nicht um das »erstbeste Mädchen« handelte. Und ihren Beschuldigungen nichts Zufälliges anhaftete. Leichthin und ohne sich selbst darüber im Klaren zu sein, hatte sie in seiner Seele die schmerzlichste und schwerste Last ausgemacht — um sie in eine Waffe zu verwandeln. Von unglaublicher Stärke!
Nein, sie hatte nicht gewusst, was sie getan hatte. Sie hatte ihn bloß verletzen wollen, was ihr auch vorzüglich gelungen war.
Ihm waren schon reife Hexen untergekommen, initiierte und erfahrene, die in voller Kampfmontur das Gleiche versucht hatten. Damals hatte er nur gelacht und ihre Waffe gegen sie selbst gewandt. Aber jetzt …
Er konnte sich nun nicht länger beherrschen und spuckte aus. Seine Spucke schlug einem gemeinen Löwenzahn die Hälfte seiner weißen Federn ab; verdrossen spuckte er noch einmal, diesmal jedoch daneben, sodass der Löwenzahn mit einer Halbglatze davonkam.
Sicher, sie hatte seinen Schlag mit einer seltenen Tapferkeit eingesteckt. Hemmungslos hatte er auf sie eingedroschen, jede Kontrolle hatte er über sich verloren. Es war sehr lange her, seit er das letzte Mal jemandem mit einer derartigen Gewalt eins übergezogen hatte.
Plötzlich wollte er ins Auto steigen, zu dem gelben Haus fahren und die Wache rufen. Stattdessen ging er jedoch zu Ywha, die am Boden lag, und setzte sich neben sie.
Sie hatte wirklich eine gute Abwehr. Und eine unverwüstliche Konstitution. Das Blut zählte nicht. Das war bloß Nasenbluten und ließ ohnehin schon nach, trocknete an den roten Haaren ein.
Mit einem Mal erinnerte er sich, wie er in seiner Kindheit Stunde um Stunde vor einem Stahlgitter im Zoo gestanden hatte, vor dem Käfig für die Füchse. Der einzige Fuchs, der je in Unfreiheit geboren worden war, ein schmutziges, vergessenes Tier, das man mit allem Möglichen bewarf und neckte. Dieser Fuchs wartete auf ihn, versteckt hinter seinem Bretterhäuschen, und kroch, sobald Klawdi auftauchte, auf dem Bauch durch den ganzen Käfig zu ihm hin; jedes Mal griff die durch das Gitter gezwängte Hand einige Zentimeter vor der spitzen, leidenden Schnauze in die Luft. Wohin war dieses Füchslein verschwunden? Was hatte Klawdi von den kummervollen Zoobesuchen abgebracht?
Schluss jetzt mit der Gefühlsduselei. Er, der Großinquisitor, hätte eben beinahe eine junge, unregistrierte Hexe zu Tode geprügelt.
Das Wasser aus dem Kanister war überraschend kalt. Es brachte die Zähne zum Bersten, und das tat gut.
Ywha fing einen prasselnden, großzügigen Strahl mit der Hand auf. Die Spritzer nässten ihren Pullover, doch das war ihr egal, der Pullover war so oder so hinüber. Das ganze Blut … Was war das nur für ein erbärmlicher Sommer, wo sie einen Pullover brauchte? Letztes Jahr hatte um diese Zeit die Sonne geknallt …
Die einfachen, banalen Gedanken stellten eine Abwehrreaktion dar. Ywha widersetzte sich dem nicht, sie dachte an das Gras und an den Löwenzahn. An das Wetter, den Regen, der bald einsetzen würde, an die dämliche Stickerei in der einen Ecke ihres Taschentuchs, das sie vor zwei Monaten in einem Kurzwarenladen gekauft hatte.
»Was tut dir weh?«
Alles. Aber irgendwie komisch, stumpf. Und sobald sie den Kopf drehte, wurde ihr schwarz vor Augen.
»Warum kümmern Sie sich eigentlich um mich? Stecken Sie mich doch ins Gefängnis, dann sind Sie mich los!«
»Leg dich auf den Rücken. Mit dem Taschentuch auf dem Gesicht.«
Sie suchte sich eine Stelle, an der kein Löwenzahn wuchs. Sie wollte die weißen Sporen nicht in Aufruhr versetzen. Waren sie erst einmal ab, bekam man sie nicht wieder dran.
»Hat es sehr wehgetan?«
Unerträglich, dachte sie. »Halb so wild«, sagte sie aber, das Schwindelgefühl ignorierend. »Ein bisschen.«
Er hob ihren Kopf an und bettete ihr Hinterhaupt auf etwas Hartes und Warmes. Auf seine Knie — worauf sie im ersten Moment eine Art leichter Stromschlag durchzuckte.
»Verkrampf dich nicht. Das muss sein. Leben deine Eltern eigentlich noch?«
»Weshalb …«
»Nur so. Aus Neugier.«
»Meine Mutter. Aber ich habe ihr vor einem halben Jahr zum letzten Mal geschrieben.«
»Magst du sie nicht?«
»Doch. Deshalb habe ich … gedacht … ich wollte ihr schreiben … sobald ich mir mein Leben aufgebaut habe … darüber würde sie sich freuen …«
»Und wenn sie krank ist? Deine Hilfe braucht? Wenn du ihr nicht geschrieben hast, woher willst du dann wissen, ob es ihr gut geht?«
Ywha antwortete nicht. Mühevoll schlug sie die Augen auf. Der Himmel war leer, ohne Wolken, ohne Vögel.
»Mein Bruder hat es mir gesagt … und auf ihn ist Verlass. Mein älterer Bruder. Im Gegensatz zu meinem jüngeren … Der verspricht dir etwas — und hat es schon im nächsten Augenblick vergessen. Es ist ganz bestimmt für alle Beteiligten am besten, wenn ich … nicht gerade jetzt auftauche. Haben Hexen nie eine Familie?«
»Einige haben eine. Aber die meisten nicht.«
»Zweiundsechzig Prozent?«
Ein Auto fuhr vorbei. Es verlangsamte ein wenig, hielt jedoch nicht an.
»Nasar wird … Er wird mich nie heiraten. Er kann keine Hexe heiraten. Das ist doch normal. Sie hätten es auch nicht gekonnt.«
»Ich …« Der Anflug von einem Lächeln umspielte die Lippen des Inquisitors. »Ich hätte es gekonnt. Vermutlich.«
Verwundert stemmte sich Ywha sogar ein wenig hoch. Die Schwäche verlangte allerdings Tribut, und so sank sie, von Schwindel erfasst, zurück.
»Sag mal, Ywha, weißt du noch, was du mir gesagt hast?«
»Es tut mir leid«, presste sie heraus.
»Die Entschuldigung ist abgelehnt. Erinnerst du dich noch? Könntest du das wiederholen?«
Sie hüllte sich in Schweigen. »Nein. Ich … habe es vergessen«, sagte sie dann.
»Und erinnerst du dich, woher diese Worte kamen?«
»Nein.«
Das Blut, das schon versiegt war, schoss wieder aus ihrer Nase. Ywha presste das feuchte Taschentuch auf ihr Gesicht.
(Djunka. April)
Am nächsten Morgen entschuldigte sich Klaw bei Juljok Mytez. Von dem Friedensangebot begeistert, zirpte Julian den ganzen Tag wie eine Heuschrecke und erwies Klaw unzählige kleine Gefälligkeiten.
Klaw fuhr nicht in die Stadt. Er ging zum Unterricht, kam in sein Zimmer zurück, legte sich auf die Bettdecke und kniff die Augen fest zusammen.
Gestern war er wie durch ein Wunder dem Tod entkommen. Einem dummen und schrecklichen Tod, der obendrein wohl ziemlich qualvoll gewesen wäre. Seine Phantasie geizte nicht mit Einzelheiten, sodass er einen Widerhall jenes Schmerzes auf der Haut spürte, den ihm das gestrige Zusammenspiel von Ereignissen hätte bescheren sollen — ohne Frage ein reichlich dummes und seltsames Zusammenspiel.
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