»Wartest du auf ihn?«, fragte er. Die Art, wie er »ihn« aussprach, drückte tiefste Abneigung aus. »Ist es das?«
Ich löste seine Hände von meinen Schultern und schob sie energisch fort. »Setz dich. Jetzt.«
Das »jetzt« zwang ihn dazu, mich loszulassen, die paar Schritte zu meinem Bett zu gehen und sich hinzusetzen. Er tat es und starrte die ganze Zeit wütend vor sich hin. Ich drehte mich wieder zu dem Fenster um und ließ seinen Hass an meinem Rücken ohne Wirkung verpuffen. »Ja«, sagte ich. »Ich warte auf ihn.«
Eine verblüffte Pause. »Du bist in ihn verliebt. Du warst es bisher nicht, aber jetzt bist du es. Nicht wahr?«
Du verschließt dich der Wahrheit.
Ich ließ mir die Frage durch den Kopf gehen.
»In ihn verliebt?« Ich sprach es langsam aus. Der Satz fühlte sich seltsam an, als ich darüber nachdachte. Wie ein Gedicht, das man zu oft gelesen hatte. »In ihn verliebt.«
Eine weitere Erinnerung lenkt dich ab.
Ich war überrascht, echte Angst in Nahas Stimme zu hören. »Sei kein Dummkopf. Du weißt nicht, wie oft ich neben einer Leiche aufgewacht bin. Wenn du stark bist, kannst du ihm widerstehen.« »Ich weiß. Ich habe schon einmal Nein zu ihm gesagt.« »Dann ...« Verwirrung.
Ich hatte eine plötzliche Erleuchtung, wie sein Leben bisher verlaufen sein musste, das Leben des anderen, ungewollten Nahadoth. Jeden Tag war er ein Spielzeug der Arameri. Jede Nacht gab es keinen Schlaf, sondern Vergessen, das so nah am Tod war, wie ein Sterblicher diesem Ereignis kommen kann. Kein Frieden, keine wahre Erholung. Jeden Morgen schreckliche Überraschungen: ominöse Verletzungen. Tote Geliebte. Und die seelenzermürbende Gewissheit, dass es immer so weitergehen würde.
»Träumst du?«, fragte ich.
»Was?«
»Träumen. Nachts, wenn du ... bei ihm bist. Tust du’s?«
Nahadoth runzelte einen Moment lang die Stirn, als ob er versuchte, die Falle in meiner Frage herauszufinden. Schließlich sagte er: »Nein.«
»Überhaupt nicht?«
»Manchmal blitzen Bilder auf.« Er gestikulierte vage und sah mich nicht an. »Erinnerungen vielleicht. Ich weiß nicht, was das ist.«
Ich lächelte und fühlte ihm gegenüber plötzliche Wärme. Er war wie ich. Zwei Seelen oder doch zumindest zwei Identitäten in einem Körper. Vielleicht hatten die Enefadeh daher ihre Idee.
»Du siehst müde aus«, sagte ich. »Du solltest ein bisschen schlafen.«
Er stutzte. »Nein. Ich schlafe nachts genug.«
»Schlaf jetzt«, sagte ich, und er fiel so schnell auf die Seite, dass ich unter anderen Umständen gelacht hätte. Ich ging hinüber zum Bett, hob seine Beine hinein und legte ihn bequem hin. Dann kniete ich mich neben das Bett und legte meinen Mund an sein Ohr.
»Hab angenehme Träume«, befahl ich ihm. Das Stirnrunzeln auf seinem Gesicht veränderte sich leicht, wurde weicher und glättete sich.
Zufrieden stand ich auf und ging zurück zum Fenster und wartete.
Warum kann ich mich nicht daran erinnern, was als Nächstes geschah?
Du erinnerst dich doch ...
Nein, warum kann ich mich jetzt nicht daran erinnern? Während ich darüber spreche, kehrt es zu mir zurück, aber nur dann. Ohne das befindet sich dort ein leerer Raum. Ein großes schwarzes Loch.
Du erinnerst dich doch.
In dem Moment, als die rote Rundung der Sonne hinter dem Horizont verschwand, bebte der gesamte Palast und mit ihm das Zimmer. Auf so kurze Entfernung war die Vibration kräftig genug, dass meine Zähne klapperten. Eine Linie schien durch mein Zimmer hindurchzugleiten. Sie bewegte sich hinter meinem Rücken vorwärts, und als sie vorüber war, war das Zimmer dunkler. Ich wartete, und als die Haare in meinem Nacken sich aufstellten, sprach ich. »Guten Abend, Lord Nahadoth. Geht es Euch heute besser?«
Die einzige Antwort, die ich erhielt, war ein tiefes, erschauerndes Ausatmen. Der Abendhimmel war immer noch von Sonnenlichtstrahlen durchzogen. Die Farben Gold, Rot und Violett waren so intensiv, als ob sie Juwelen wären. Er war noch nicht er selbst.
Ich drehte mich um. Er saß aufrecht. Er sah immer noch menschlich aus, normal, aber ich konnte sehen, wie sein Haar ihn umwehte, obwohl es keine Brise gab. Während ich zusah, wurde es dicker, länger, dunkler und wob sich zu dem Umhang der Nacht. Fazinierend und wunderschön. Er wandte sein Gesicht von dem verbleibenden Sonnenlicht ab und sah nicht, dass ich näher kam, bis ich direkt vor ihm stand. Dann sah er auf und hob eine Hand, als ob er sich abschirmen wollte. Vor mir?, fragte ich mich und lächelte.
Seine Hand zitterte, während ich ihn beobachtete. Ich nahm sie und fühlte mich von der kühlen Trockenheit seiner Haut beschwichtigt. Seine Haut war jetzt braun, wie ich bemerkte. War das meinetwegen? Er beobachtete mich zwischen seinen Fingern hindurch. Seine Augen waren schwarz, und er blinzelte nicht. Sie waren wie die eines Tieres, ohne Gedanken.
Ich legte meine Hand um seine Wange und wollte, dass er zu Verstand kam. Er blinzelte, runzelte leicht die Stirn und starrte mich dann an, als seine Verwirrung sich lichtete. Seine Hand in meiner hielt auf einmal inne.
Als ich den Moment für gekommen hielt, ließ ich seine Hand los, öffnete meine Bluse und ließ sie von meinen Schultern gleiten. Ich machte meinen Rock los und ließ ihn zusammen mit meiner Unterwäsche fallen. Nackt stand ich da und bot mich an.
... und dann ... dann ...
Du erinnerst dich.
Nein. Nein, tue ich nicht.
Warum hast du Angst?
Ich weiß es nicht.
Hat er dir wehgetan?
Ich erinnere mich nicht!
Doch. Denk nach, Kind. Ich habe dich stärker gemacht als das hier. Welche Geräusche gab es? Gerüche? Wie fühlen sich die Erinnerungen an?
Wie ... wie Sommer.
Ja. Schwül, undurchdringlich, diese Sommernächte. Wusstest du, dass die Erde die Hitze eines ganzen Tages aufnimmt und sie in den Nachtstunden wieder abgibt? Die ganze Energie schwebt in der Luft und wartet darauf, genutzt zu werden. Sie macht die Haut schlüpfrig. Offne deinen Mund, und sie schlängelt sich um deine Zunge.
Ich erinnere mich. O Götter, ich erinnere mich.
Ich wusste, du würdest dich erinnern.
Die Schatten im Zimmer schienen sich zu vertiefen, als der Lord der Finsternis sich erhob. Er stand über mir, und zum ersten Mal konnte ich seine Augen im Dunkeln nicht sehen.
»Warum?«, fragte er.
»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Frage?«
»Ob du mich töten würdest, wenn ich darum bitte.«
Ich werde nicht so tun, als ob ich keine Angst gehabt habe. Das gehörte dazu — mein hämmerndes Herz und mein schneller Atem. Esui, der Nervenkitzel der Gefahr. Aber dann streckte er seine Hand so langsam aus, dass ich mich fragte, ob ich träumte, und ließ seine Fingerspitzen meinen Arm hinaufkrabbeln. Nur diese eine Berührung und meine Angst verwandelten sich in etwas völlig anderes. Götter. Göttin.
Weiße Zähne blitzten auf und erschreckten mich in der Dunkelheit. O ja, das hier war weit jenseits von einfacher Gefahr.
»Ja«, sagte er, »wenn du darum bittest, würde ich dich töten.«
»Einfach so?«
»Du möchtest deinen Tod kontrollieren, wie du es mit deinem Leben nie vermocht hast. Ich ... verstehe das.« In dieser kurzen Pause lag so viel unausgesprochene Bedeutung. Plötzlich fragte ich mich, ob der Lord der Finsternis sich je nach dem Tod gesehnt hatte.
»Ich dachte, du möchtest nicht, dass ich meinen Tod kontrolliere.«
»Nein, kleine Spielfigur.« Ich versuchte, mich auf seine Worte zu konzentrieren, während seine Hand ihre langsame Reise meinen Arm hinauf fortsetzte, aber das war schwierig. Ich bin auch nur ein Mensch. »Das ist die Art, wie Itempas anderen seinen Willen aufzwingt. Ich habe immer ... freiwillige Opfer vorgezogen.«
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