Er stand in der Nähe der großen Kristallkugel hinten im Zimmer. Erst dachte ich, dass er sich an sie gelehnt hatte, um in ihre durchsichtigen Tiefen zu schauen. Vielleicht hatte er mir so während meiner einsamen, fehlgeschlagenen Unterhaltung mit den mir unterstellten Nationen nachspioniert. Aber dann bemerkte ich, dass er vornübergebeugt stand und sich mit einer Hand auf der polierten Oberfläche der Kugel abstützte. Sein Kopf hing herab. Ich konnte seine freie Hand durch den weißen Vorhang seines Haares nicht sehen, aber irgendetwas an seinen verstohlenen Bewegungen erkannte ich sofort. Er schniefte, und das bestätigte meinen Verdacht: Allein in seiner Werkstatt, am Vorabend der einmaligen Triumphbeteuerung seines Gottes, weinte Viraine.
Eine Schwäche, die einer Darrefrau nicht würdig war, dämpfte meinen Ärger. Ich wusste nicht, warum er weinte. Vielleicht hatten all seine Missetaten die Überbleibsel seines Gewissens für einen Moment wiederbelebt. Vielleicht hatte er sich den Zeh gestoßen. Aber in dem Moment, als ich dastand und ihn beim Weinen beobachtete — etwas, das T’vril erfolgreich vermieden hatte —, da konnte ich nicht anders, als mich zu fragen: Was wäre, wenn auch nur eine dieser Tränen für meine Mutter war? Es gab nur wenige Menschen, die außer mir um sie getrauert hatten.
Ich schloss dieTür und ging.
Wie dumm von mir.
Ja. Selbst dann verschließt du dich noch der Wahrheit.
Kenne ich sie?
Jetzt, ja. Damals, nein.
Warum ...
Du stirbst. Deine Seele befindet sich im Krieg. Und ein anderes Gedächtnis lenkt dich ab.
Sag mir, was du willst, hatte der Lord der Finsternis gesagt.
Scimina war in ihrem Quartier und hatte eine Anprobe für ihr Ballkleid. Es war weiß — eine Farbe, die ihr nicht besonders gut stand. Zwischen dem Material und ihrer hellen Haut gab es nicht genug Kontrast, und das Ergebnis war, dass sie blass aussah. Immerhin, das Kleid war schön und bestand aus glänzendem Material, das durch winzige Diamanten, die das Mieder zierten, und das Futter des Rocks noch großartiger wurde. Alles glitzerte im Licht, als sie sich auf dem Podest für die Schneider drehte.
Ich wartete geduldig, während sie sie mit Anweisungen bedachte. Aul der anderen Seite des Zimmers saß die menschliche Version von Nahadoth auf der Fensterbank und schaute hinaus in die Nachmittagssonne. Falls er gehört hatte, dass ich eintrat, so gab er es nicht zu erkennen und sah nicht auf.
»Ich gebe zu, ich bin neugierig«, sagte Scimina und wandte sich mir schließlich zu. Ich verspürte flüchtig eine gehässige Befriedigung, als ich den großen Bluterguss auf ihrem Kieferknochen bemerkte. Gab es keine magische Möglichkeit, so kleine Wunden zu heilen? Ach, wie schade. »Was könnte dich dazu bringen, mich hier zu besuchen? Gedenkst du, für deine Nation um Gnade zu flehen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Das würde nichts nützen.«
Sie lächelte beinahe liebenswürdig. »Stimmt. Nun denn. Was willst du?«
»Dein Angebot annehmen«, sagte ich. »Ich hoffe, es steht noch?«
Wieder eine kleine Befriedigung: der verständnislose Ausdruck auf ihrem Gesicht. »Welches Angebot meinst du, Cousine?«
Ich nickte an ihr vorbei zu der schweigenden Figur am Fenster. Er war bekleidet. Ich sah ein einfaches schwarzes Hemd, Hosen und zur Abwechslung ein schlichtes Eisenhalsband. Das war gut. Ich fand ihn nackt wesentlich geschmackloser. »Du hast gesagt, dass ich mir dein Haustier einmal ausleihen könnte.«
Hinter Scimina drehte sich Naha zu mir um und starrte mich an. Seine braunen Augen waren geweitet. Auch Scimina starrte kurz auf mich und brach dann in Gelächter aus.
»So ist das!« Zum Entsetzen der Schneider verlagerte sie ihr Gewicht auf eine Seite und legte eine Hand auf ihre Hüfte. »Ich kann dir deine Wahl nicht verdenken, Cousine. Mit ihm hat man mehr Spaß als mit T’vril. Aber - verzeih mir - du bist so ein kleines Wesen. Und mein Naha ist so ungeheuer ... stark. Bist du sicher?«
Ihre Beleidigungen waberten wie Luft an mir vorbei, und ich bemerkte sie kaum. »Das bin ich.«
Scimina schüttelte irritiert den Kopf. »Also gut. Ich kann ihn im Moment sowieso nicht gebrauchen, er ist heute schwach. Wahrscheinlich genau richtig für dich also.« Sie hielt inne und warf einen Blick zu den Fenstern, um die Position der Sonne zu bestimmen. »Natürlich weißt du, dass du dich vor Sonnenuntergang hüten musst.«
»Natürlich.« Ich lächelte, was mir ein Stirnrunzeln von ihr eintrug. »Ich gedenke nicht, früher als nötig zu sterben.«
Etwas wie Misstrauen flackerte kurz in Seiminas Augen auf, und ich spürte, wie die Spannung meinen Magen umdrehte. Aber dann zuckte sie mit den Schultern.
»Geh mit ihr«, sagte sie, und Nahadoth erhob sich.
»Für wie lange?«, fragte er, und seine Stimme klang neutral.
»Bis sie tot ist.« Scimina lächelte und breitete ihre Arme in einer großherzigen Geste aus. »Wer bin ich, dass ich einen letzten Wunsch verweigern würde? Aber wenn du schon dabei bist, Nahadoth, achte darauf, dass sie nichts tut, das zu anstrengend ist — zumindest nichts, das sie handlungsunfähig machen würde. Wir brauchen sie übermorgen wohlauf.«
Die eiserne Kette war mit einer Wand in der Nähe verbunden gewesen. Sie fiel bei Seiminas Worten herunter. Naha hob das abgetrennte Ende auf. Dann stand er da und beobachtete mich mit ausdrucksloser Miene.
Ich neigte meinen Kopf vor Scimina. Sie ignorierte mich und wandte ihre Aufmerksamkeit mit einem verärgerten Knurren wieder den Schneidern zu — einer von ihnen hatte den Saum schlecht abgesteckt. Ich ging und kümmerte mich nicht darum, ob Nahadoth mir jetzt oder später folgte.
Was würde ich wollen, wenn ich frei sein könnte?
Sicherheit für Darr.
Dass der Tod meiner Mutter etwas zu bedeuten hatte.
Änderungen für die Welt.
Und für mich selbst ...
Ich verstehe jetzt. Ich habe gewählt, wer mich formen wird.
»Sie hat recht«, sagte Naha, als wir in meiner Wohnung standen. »Ich bin zu nicht viel zu gebrauchen im Moment.« Er sagte es regungslos, mit keinerlei Gefühl in der Stimme, aber ich erriet seine Bitterkeit.
»Fein«, sagte ich. »Ich habe ohnehin kein Interesse.« Ich stellte mich ans Fenster.
Hinter mir war lange Zeit Schweigen, dann kam er herüber.
»Etwas hat sich verändert.« Das Licht reichte nicht, um seine Spiegelung zu sehen, aber ich konnte mir seinen misstrauischen Ausdruck vorstellen. »Du bist anders.«
»Viel ist geschehen, seit wir uns zum letzten Mal begegnet sind.«
Er berührte meine Schulter. Als ich seine Hand nicht abwehrte, nahm er auch die andere und drehte mich sanft herum, bis ich ihn ansah. Ich ließ ihn gewähren. Er starrte mich an und versuchte, in meinen Augen zu lesen — vielleicht auch, mich einzuschüchtern.
Nur war er auf so kurze Entfernung alles andere als einschüchternd. Tiefe Müdigkeitsfalten gingen von seinen eingefallenen Augen aus; die Augen waren blutunterlaufen und sahen noch gewöhnlicher aus als vorher. Seine Haltung war gekrümmt und seltsam. Erst jetzt verstand ich, dass er kaum in der Lage war, zu stehen. Nahadoths Folter hatte auch ihn in Mitleidenschaft gezogen.
Mein Gesicht muss Mitleid gezeigt haben, weil er plötzlich die Stirn runzelte und sich aufrichtete. »Warum hast du mich hergebracht?«
»Setz dich«, sagte ich und zeigte auf das Bett. Ich versuchte, mich wieder dem Fenster zuzuwenden, aber seine Finger umklammerten meine Schultern. Wenn er im vollen Besitz seiner Kräfte gewesen wäre, hätte er mir wehgetan. Das wusste ich jetzt. Er war ein Sklave, eine Hure, dem man nicht einmal zeitweilig Kontrolle über seinen eigenen Körper erlaubte. Er hatte nur die Macht, die er über seine Geliebten und seine Benutzer ausüben konnte. Das war nicht viel.
Читать дальше