Lawler war erschöpft. In ihm begannen wirre Bildimaginationen, quälend rätselhafte, abstrakte Eindrücke. In seinem Hirn tanzten unbekannte Konturen. Er spürte hinter dem Stirnbein ein ärgerliches ungreifbares Jucken und preßte die Hände an die Schläfen. Es half nicht.
Delagard stapfte brabbelnd und in Gedanken versunken übers Deck. Nach einer Weile befahl er, das Schiff zu wenden, und steuerte es durch die Brecher wieder aus der Bucht hinaus. Sobald sie im freien Wasser waren, wurde es in der Bucht wieder still, und sie sah wieder genauso einladend aus wie zuvor.
»Versuchen wir’s nochmal?« fragte Felk.
»Nicht hier«, knurrte Delagard mürrisch. Seine Augen blitzten vor kalter Wut. »Vielleicht ist das keine gute Stelle. Wir fahren westwärts weiter.«
Aber die Küste weiter westlich erwies sich als wenig einladend, sie war steil, rauh und wild. Der Wind trug einen scharfen stechenden Brandgeruch heran. Vom Land stiegen feurige Funken auf. Es war, als brenne die Luft selber. Hin und wieder prallten ihnen Wogen einer überwältigenden telepathischen Kraft von der Insel her entgegen, kurze plötzliche Stöße, die mentale Verwirrung und Diskoordination auslösten. Die Mittagssonne wirkte ausgeblichen und geschwollen. Und nirgendwo schien es eine Bucht zu geben oder einen Einschnitt. Nach einiger Zeit kam Delagard, der sich unter Deck begeben hatte, zurück und verkündete mit gepreßtem, bitterem Ton, daß er — vorläufig — davon Abstand nehmen werde, näher an Land zu kommen.
Sie zogen sich an eine Stelle weit außerhalb der mahlenden Brandung zurück, wo das Wasser flach und seicht war und von Farbbändern durchzogen, die von einem schimmernden Sandbett heraufgespiegelt wurden. Hier warfen sie Anker aus, zum erstenmal seit Beginn der Reise.
Lawler gesellte sich zu Delagard, der an der Reling lehnte und in die Ferne starrte.
»Na? Was hältst du jetzt von deinem Paradies, Nid? Von deinem Land, in dem Milch und Honig fließen?«
»Es wird uns gelingen, einen Weg hinein zu finden. Wir sind einfach von der falschen Seite her rangekommen, das ist alles.«
»Du willst also tatsächlich da an Land?«
Delagard wandte sich ihm zu und sah ihn an. Die blutunterlaufenen Augen wirkten in dem flirrenden Licht ringsum seltsam verändert und sahen vollkommen ausdruckslos und wie tot aus. Als er dann aber sprach, war die Stimme so fest wie eh und je. »Nichts, was ic h bisher gesehen habe, hat im geringsten meine Meinung über irgendwas verändert, Doc. Hier ist das Land, wo ich sein will. Es ist Jolly gelungen, hier an Land zu gehen, also wird es auch uns gelingen.«
Lawler antwortete nichts darauf. Es fiel ihm nichts ein, was er hätte sagen können, was nicht bei Delagard einen wahnsinnigen Tobsuchtsanfall ausgelöst hätte.
Dann aber grinste der Reeder, beugte sich zu ihm her und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Doc! Ach, Doktorchen! Schau doch nicht so begräbnisernst drein! Klar, es sieht hier ziemlich wüst aus. Natürlich. Wieso hätten sich die Kiemlinge sonst die ganze Zeit von hier ferngehalten? Und natürlich kommt uns das Zeug, das von da drüben zu uns rüberweht, fremd vor. Wir sind es halt einfach nicht gewohnt. Aber das bedeutet ja nicht, daß wir uns davor fürchten müßten. Es handelt sich um nichts weiter als um ziemlich ausgefallene optische Effekte. Bloßer dekorativer Verpackungszauber: Völlig bedeutungslos. Hat nicht das geringste zu sagen.«
»Es freut mich; daß du dir deiner Sache so sicher bist.«
»Ja. Ich freu mich auch. Hör zu, Doc, hab doch endlich Vertrauen. Wir sind doch fast da. Wir sind bis hierher gekommen, und wir werden auch den Rest des Weges schaffen. Es besteht kein Anlaß, sich Sorgen zu machen.« Und wieder das breite Grinsen. »Hör mal, Doc, entspann dich, laß los, ja? Gestern abend ist mir zufällig ein Tropfen Brandy in die Finger gekommen, den Gospo versteckt hatte. Komm doch in einer Stunde oder so zu mir in die Kabine runter. Es werden alle da sein. Und wir feiern eine Party. Wir werden auf unsere Ankunft anstoßen.«
* * *
Lawler kam als Letzter zur Party. Die anderen hockten alle schon bei Kerzenlicht mehr oder weniger im Halbkreis in der dunklen, engen dumpf riechenden Kabine um Delagard herum. Sundira links von ihm, Kinverson dicht bei ihr, Neyana und Pilya daneben, dann Gharkid, der Priester, Tharp, Felk und Lis. Alle hatten einen Becher mit Schnaps vor sich. Auf dem Tisch standen eine leere und zwei volle Flaschen. Delagard stand gegen die Wandung gedrückt, den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen, was zugleich irgendwie aggressiv und defensiv wirkte. Er sah aus, als wäre er besessen. Die Augen glitzerten beinahe fiebrig. Das Gesicht, voll von einem Stachelbart und schorfig von einer Art Hautausschlag, war gerötet und schweißfeucht. Und plötzlich begriff Lawler, daß der Mann sich am Rande einer Krise befinden müsse, eines innerlichen Ausbruchs, einer heftigen Explosion und Freisetzung aufgestauter Gefühle, die allzu lange unterdrückt worden waren.
»Los, trink auch was, Doc«, rief Delagard.
»Danke. Gern. Ich dachte, wir haben nichts mehr von dem Zeug.«
»Hab ich auch gedacht«, erwiderte Delagard. »Hab mich eben geirrt.« Er schenkte ein, bis die Kumme überfloß, dann schob er sie über den Tisch auf Lawler zu. »Also hast du dich doch an Jollys Geschichte von der Unterwasserstadt erinnert, was?«
Lawler trank einen tiefen Schluck Brandy und wartete, bis sich die Wirkung im Bauch ausbreitete.
»Woher weißt du was davon?«
»Sundira hat es mir erzählt. Sie sagt, du hast mit ihr darüber geredet.«
Achselzuckend antwortete Lawler: »Ja, gestern ist das auf einmal wieder aus dem Nichts in meiner Erinnerung aufgetaucht. Ich hab seit Jahren nicht mehr daran gedacht. Der tollste Teil von Jollys Geschichte — und ich hatte es vergessen.«
»Aber ich nicht«, sagte Delagard. »Ich hab es grad den anderen erzählt, während wir auf dich gewartet haben. Na, was meinst du jetzt, Doc? Hat Jolly bloß ’nen Haufen Scheiße verzapft, oder nicht?«
»Eine Stadt unter dem Wasser? Wie sollte so was möglich sein?«
»Also, ich erinnere mich, daß Jolly was von einem Schwerkrafttrichter oder so sagte. Hochüberlegene Super-Technologie. Von Super-Gillies gebaut.« Delagard ließ seinen Becher und den Brandy darin kreisen. Es fehlte nicht mehr viel, und er würde betrunken sein, erkannte Lawler. »Diese Geschichte vom Jolly hab ich immer am liebsten gehört. Genau wie du. Wie die Kiemlinge vor ’ner halben Million Jahren beschlossen haben, auf dem Ozeangrund zu leben. Weißt du noch, es gab damals auf diesem Planeten noch feste Landmassen, das hatten sie dem Jolly gesagt. Inseln von anständigen Ausmaßen, kleinere Kontinente sogar, und dann haben sie das großenteils abgetragen und die Rohstoffe dazu verwendet, in der Tiefe, am Ende ihres Gravitationsschachtes abgeschottete, versiegelte Kammern zu bauen. Und als sie damit fertig waren, haben sie sich dort hinunter zurückgezogen und die Schotts hinter sich dichtgemacht.«
»Und das glaubst du also?« fragte Lawler.
»Ach, vielleicht auch nicht. Es ist eine ziemlich wilde Geschichte. Aber eben eine recht angenehme, gibst du mir nicht recht, Doc? Daß da drunten eine überlegene Gillie -Rasse lebt, die über den Planeten herrscht. Die ihre provinziellen Verwandten auf den schwimmenden Inseln zurücklassen, als Sklaven und Bauerntrottel, die für sie die Oberwelt als Farmer bearbeiten und sie mit Nahrung versorgen. Und alle Formen von Leben auf Hydros — die Insel-Gillies, und die Mäuler und die Plattformen und Taucher, und die Hexenfische und alles andere, bis hinunter zu den Kriechaustern und Rasplern — hängen in einem großen übergeordneten ökologischen Abhängigkeitsgeflecht zusammen, dessen ausschließliche Aufgabe es ist, den Bedürfnissen der Wesen zu dienen, die in dieser Unterwasserstadt leben. Die insularen Gillies glauben, daß sie nach ihrem Tod auf das ›Antlitz‹ versetzt und dort weiterleben werden. Frag doch Sundira, wenn du mir nicht glaubst. Und das muß einfach bedeuten, daß sie dann nach unten gehen und ein feines Leben in der Verborgenen Stadt führen dürfen. Vielleicht glauben ja auch die Taucher was ähnliches. Oder die Kriechaustern.«
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