Er wehrte sich dagegen. Wild und heftig und voller Wut kämpfte er und biß gegen dieses Fremde an, gegen diese Potenz, die sich seiner bemächtigen wollte. Stumm kämpfte er einen endlosen Augenblick lang dagegen an und versuchte, die in ihn vordringenden Energien wieder aus sich herauszufiltern. In seinem Geist tauchte das Bild Gospo Struvins auf, wie der damals, ganz zu Beginn der Reise, vergeblich gegen dieses dumpfigfeuchte gelbliche Faserngewächs angekämpft hatte, das aus der See heraufgestiegen war und ihn zu umstricken und einzuwickeln versuchte. Und wie Struvin in der Luft gezappelt hatte, wie er den Fuß geschleudert hatte in dem vergeblichen Versuch, sich von diesem klebrigen hartnäckigen Zeug zu befreien, das ihn umwickelte. Und so war es auch jetzt. Lawler wußte, daß er jetzt genauso um sein Leben kämpfte wie damals Gospo. Und Gospo hatte verloren.
Geh — weg — von — mir!
Er raffte alle seine inneren Kräfte zu einem großen reinigenden Befreiungsschlag zusammen und stieß zu.
Und stieß gegen — nichts. Da war nichts. Keine Netze oder Fesseln banden ihn. Keine unerklärliche Macht packte ihn in irgendeiner Würgeschlinge. Und er verstand es, begriff es über jeden Zweifel erhaben. Er kämpfte gegen SCHATTEN an, rang mit sich selbst, gegen sich selbst und gegen niemanden und nichts sonst.
Also — willst du jetzt doch überlaufen? fragte er sich dumpf. Trotz allem, jetzt willst auch du gehen? Sogar du? Und willst du es wirklich? Aber was willst du eigentlich im Leben wirklich?
Und wieder sah er die blaue ERDE, und in seiner Vorstellung leuchtete und schimmerte sie wie früher. Und dann begann sie wieder zu kochen und zu brodeln und brandgeschwärzt zu werden. Und wieder sah er das Eis, den Tod, die Finsternis und die winzigen Fragmente durchs Universum stürzen.
Und dann zwang sich ihm die Antwort auf: Ich will nicht allein sein. Will nie mehr allein sein. O mein Gott, hilf mir! Ich will nicht der letzte Erdenmensch sein, wenn es die Erde nicht mehr gibt!
Da machte Sundira, die warm an ihn geschmiegt lag, eine Bewegung. »Val? Woran denkst du denn?«
»Daß ich dich liebe«, sagte er.
»Wirklich? Auch so, wie ich jetzt bin?«
Er atmete tief durch. Und atmete die Luft von Hydros so heftig und gründlich ein wie nie zuvor in seinem Leben.
»Ja«, sagte er dann.
* * *
Da, wo einst in seinem Bewußtsein das Bild der ERDE gewesen war, schwebte nun nur noch eine makellose schimmernde Wasserkugel. Die zerspellten winzigen Objekte, die von der sterbenden Welt fortgefallen waren, schwebten einige Augenblicke über der Oberfläche der gewaltigen Wassersee. Dann stürzten sie ab und verschwanden, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Lawler spürte eine gewaltige Erleichterung, einen plötzlichen Einbruch von mildem Tauwetter. Etwas in ihm zerbarst und brach auf wie das Treibeis zum Ende des Winters. Und strömte in Schollen fort und fort und weg von ihm.
* * *
Lawler richtete sich auf und wandte sich Sundira zu, um ihr zu sagen, was ihm soeben geschehen war. Aber das war nicht nötig. Lächelnd schaute sie ihn an. Sie wußte. Und dann spürte er, wie das Schiff unter ihnen einen weiten Bogen zog, wendete und durch die leuchtende See wieder auf die Insel, das ›Antlitz‹, das Land über den Wassern zustrebte.
Über den Wassern
Roman
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Roland Fleissner
Deutsche Erstausgabe
HEYNE SCIENCE FICTION FANTASY
Band 0604973
Titel der amerikanischen Originalausgabe: THE FACE OF THE WATERS
Deutsche Übersetzung von Roland Fleissner
Das Umschlagbild malte Michael Hasted
Redaktion: Wolfgang Jeschke
Copyright © 1991 by Agberg, Ltd.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Paul Peter Fritz, Literarische Agentur, Zürich (# 36613)
Erstausgabe by Bantam Books, New York
Copyright © 1995 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH Co. KG, München
Printed in Germany 1995
Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Technische Betreuung: M. Spinola
Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels
Druck und Bindung: Presse-Druck Augsburg
ISBN 3-453-06209-4
Joseph Conrad, The Mirror of the Sea, dt. von Ernst Wagner, S. Fischer, 1990.
Es ist ein alter Seemann, / und der hält einen von dreien an. / »Bei deinem langen grauen Bart und funkelnden Auge, / sag, warum hältst du mich an?
Die Tiefe selbst vermoderte: O Gott! / daß es so etwas geben konnte! / Schleimiges Zeug mit Beinen kroch / auf dem schleimigen Meer. — Samuel Taylor Coleridge (1772–1834), ›Die Ballade vom alten Seemann‹; zitiert nach ›Gedichte der englischen Romantik‹, hrsg. von Raimund Borgmeier, Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1980
Wasser, Wasser überall, / und alle Planken schrumpften; / Wasser, Wasser überall, / und keinen Tropfen zu trinken.
Allein, allein, ganz allein / allein auf einem weiten, weiten Meer!
Allein, allein, ganz allein,
allein auf einem weiten, weiten Meer!
Und kein einziger Heiliger erbarmte sich
meiner Seele in ihrer Qual.
Der Rand der Sonne taucht unter; die Sterne brechen hervor:
Auf einen Schlag wird es dunkel;
mit weit hörbarem Wispern
schoß das Geisterschiff über das Meer davon.
Ich erwachte, und wir segelten weiter
wie bei ruhigem Wetter:
Es war Nacht, stille Nacht, der Mond stand hoch;
die Toten standen beisammen.