Drei.
* * *
Sundira sagte: »Jetzt sind nur noch wir übrig.« Sie sah Lawler an und schaute dann zu Delagard, der wie ein Haufen Elend am Fuß des Hauptmasts hockte und das Gesicht in die Hände vergraben hatte. »Ich nehme an, uns will das da drüben nicht haben.«
»Nein«, widersprach Lawler. »Wir sind die einzigen, die stark genug sind, uns dagegen zu wehren.«
»Na dann, hurra für uns«, sagte Delagard düster, ohne aufzublicken.
»Können wir zu dritt das Schiff manövrieren?« fragte sie. »Was meinst du, Val?«
»Wir können es wenigstens versuchen, denke ich.«
»Red keinen Schwachsinn!« sagte Delagard. »Es ist unmöglich, ein solches Schiff mit drei Mann zu fahren.«
»Wir könnten doch die Segel in den Hauptwind setzen und einfach mit der Strömung fahren«, sagte Lawler. »Vielleicht kommen wir auf die Weise irgendwie früher oder später zu einer bewohnten Insel. Es ist auf jeden Fall besser, als hie rzubleiben. Was meinst du dazu, Nid?«
Delagard zuckte die Achseln.
Sundira schaute zur Insel hinüber.
»Siehst du noch einen von ihnen?« fragte Lawler.
»Keinen mehr. Aber ich hör was. Spür was. Ich glaub, Father Quillan kehrt zu uns zurück.«
Lawler spähte zur Küste hinüber. »Wo?« Der Priester war nirgends zu sehen. Und trotzdem, trotzdem — jetzt spürte auch Lawler eine quillanähnliche Nähe, ohne Zweifel. Es war, als befände sich der Priester dicht neben ihnen hier auf dem Schiffsdeck. Ein neuer Trick von da drüben, sagte sich Lawler.
»Nein«, sagte Quillan, »es ist kein Trick. Ich bin hier.«
»Das stimmt nicht. Du bist noch immer auf dem Land«, erwiderte Lawler mit heiserer Stimme.
»Ich bin auf dem Land und hier bei euch zur selben Zeit.«
Delagard stieß einen dumpfen ärgerlichen Laut aus. »Verdammt noch mal, wieso kann uns das Mistding nicht in Ruhe lassen?«
»Es liebt euch«, antwortete Quillan. »Es sehnt sich nach euch. Wir sehnen uns nach euch. Kommt und vereinigt euch mit uns.«
Lawler begriff, daß ihr Sieg nur vorläufig war. Der Sog bestand trotzdem weiter — allerdings sanfter, als erlegte sich jemand Zurückhaltung auf —, doch bereit, sie zu packen, sobald sie nicht mehr auf der Hut waren. Und das Quillan-Phantom war als Ablenkung gedacht — als Verführung und Ablenkung.
Lawler fragte: »Bist du der Priester Quillan, oder spricht das ›Antlitz‹ da drüben durch dich?«
»Beides. Ich bin jetzt Teil davon.«
»Aber trotzdem begreifst du dich noch als den Priester, den katholischen Father Quillan, als Individuum in der überindividuellen Einheit dieses — Dings da — dieser Feste über dem Wasser?«
»Ja. Ja. Ganz genau so ist es.«
»Und wie kann so was sein?«
»Komm her und sieh«, sagte Quillan. »Du bleibst du selbst. Und trotzdem wirst du zu etwas unendlich Größerem.«
»Unendlich?«
»Ja — unendlich.«
»Das ist wie ein Traum«, sagte Sundira. »Da redest du mit etwas, das du nicht sehen kannst, und es antwortet dir mit der Stimme von jemand, den du kennst.« Sie wirkte sehr gelassen. Wie Delagard machte sie nun den Eindruck, als sei sie inzwischen jenseits von aller Furcht, als wäre alle Besorgnis von ihr abgefallen. Entweder würde das ›Antlitz‹ sie kriegen oder nicht, doch das war fast schon gänzlich ihrer Kontrolle entzogen. »Father, kannst du auch mich hören?«
»Aber gewiß doch, Sundira.«
»Weißt du, was das ›Antlitz‹ ist? Ist es Gott? Kannst du uns das sagen?«
»Das ›Antlitz‹ ist Hydros. Und Hydros ist das ›Antlitz‹«, sprach die gelassene Stimme des Priesters. »Hydros ist ein gewaltiges Kollektiv- Bewußtsein, ein zusammengesetzter Organismus und eine singuläre Intelligenz, die den gesamten Planeten umfaßt. Die Insel, zu der wir vorgestoßen sind, ist etwas Lebendiges — sie ist das Gehirn des Planeten. Und sie ist mehr als ein Gehirn: Sie ist zugleich auch der zentrale Mutterschoß für alles Existierende. Die All- und Ur-Mutter, aus der alles, was auf Hydros lebt, hervorströmt.«
»Ist das der Grund, warum die Sassen nicht hierher gehen wollen?« fragte Sundira. »Weil es ein Sakrileg wäre, an den Ort des Ursprungs zurückzukehren?«
»Ja, so ungefähr.«
»Und diese Vielfalt intelligenter Lebensformen auf Hydros«, sagte Lawler, der auf einmal die Verbindung begriff. »Die hat sich entwickelt, weil alles mit dem da drüben verbunden ist, ja? Die Gillies und die Taucher und die Rammhörner und überhaupt alles? Ein einziges gigantisches globales Bewußtseinskonglomerat?«
»Ja. So ist es: eine Universalintelligenz.«
Lawler nickte, schloß die Augen und versuchte sich vorzustellen, was es bedeutete, Teil einer solchen übergeordneten Entität zu sein: Die Welt als ein einziges riesenhaftes Uhrwerk, ein Riesenmechanismus, der vor sich hin tickte und tickte, und alles, was lebte, tanzt im Rhythmus dieses Takts.
Und Quillan war jetzt ein Teil davon geworden. Und Gharkid. Und Lis, Pilya, Neyana, Tharp und Felk. Und der arme Leidenskoloß Kinverson. Verschluckt vom Göttlichen. Eingegangen ins unendlich Göttliche.
Delagard, immer noch in der Stellung finsterster Depression kauernd und ohne das Gesicht zu heben, sagte auf einmal: »Quillan? Sag mir eins, Quillan: Was ist mit der Stadt unterm Meer? Gibt es sie — oder nicht?«
»Ein Mythos, ein Märchen«, erwiderte die Stimme des unsichtbaren Quillan.
»Aha«, sagte Delagard bitter. »Ach so.«
»Oder genauer, eine Metapher. Euer alter Seefahrer hatte schon einen Teil der Grundidee zu fassen bekommen, aber dann alles durcheinandergebracht. Die große Stadt von Hydros ist überall auf dem Planeten, auf dem Meeresboden, im Wasser und auf seiner Oberfläche. Der ganze Planet ist eine einzige große Civitas, eine Gemeinde, und jedes Lebewesen hier ist Bürger von ihr.«
Delagard hob den Kopf. Seine Augen waren stumpf von Erschöpfung.
Quillan sprach weiter: »Die Geschöpfe hier haben stets im Wasser gewohnt. Gesteuert vom ›Antlitz‹ und eins mit ihm. Anfangs waren sie rein aquatische Geschöpfe, aber dann lehrte das ›Antlitz‹ sie, ihre schwimmenden Inseln zu bauen, um sie auf die ferne Zukunft vorzubereiten, wenn festes Land aus den Tiefen heraufsteigen würde. Aber eine verborgene Stadt unter dem Meer hat es nie gegeben. Der Planet ist eine Wasserwelt und sonst nichts. Und alles, was hier existiert, ist harmonisch eingebunden in die Macht und Stärke des ›Antlitzes‹.«
»Alles — außer uns«, sagte Sundira.
»Alles, außer den paar streunenden Menschen, die es auf diese Welt hier verschlagen hat, ja«, antwortete Quillan. »Die Exilanten. Die aus purer Unwissenheit darauf beharrten, weiter Exilanten zu bleiben. Sogar noch stolz darauf waren, Fremde und Andersartige zu sein und abgesondert und ausgeklammert aus der Hydros-Harmonie zu leben.«
»Weil es nicht ihre Sache ist, Teil von dieser Harmonie zu sein«, sagte Lawler.
»Falsch. Ganz falsch! Hydros heißt alle willkommen.«
»Aber nur zu seinen Bedingungen.«
»Ebenfalls falsch«, sagte Quillan.
»Aber sobald man aufhört, man selbst zu sein, ein Individuum…«, fuhr Lawler fort. »Sobald man Teil einer größeren Wesenheit wird…«
Er runzelte die Stirn. In eben diesem Augenblick hatte etwas sich verändert. Er spürte deutlich die Stille um sich herum. Die Aura, die Gedankendecke, die sie während ihres kurzen Hydros-Kolloquiums mit Quillan umhüllt hatte, sie war verschwunden.
»Ich glaube, er ist fort«, sagte Sundira.
»Ja. Er hat sich von uns zurückgezogen«, sagte Lawler. »Es hat sich zurückgezogen.« Auch das ›Antlitz‹ selbst und das damit verbundene Gefühl von etwas Gewaltigem in der Nähe schienen fort zu sein. Für den Augenblick jedenfalls.
»Wie merkwürdig, dieses Gefühl, wieder allein zu sein.«
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