Dann schwammen sie und Gharkid nebeneinander an Land.
* * *
In der heissen wirbelnden Luft über der Insel hingen jetzt tiefe, dunkle Wolken. Oben waren sie gelbbraun, weiter unten dunkler… Die Färbung von Lis. Sie hatte ihr Ziel erreicht.
»Es wird uns alle holen«, sagte Sundira keuchend. »Wir müssen weg von hier!«
»Ja, und zwar schnell«, stimmte Lawler ihr zu. Hastig schaute er sich um. Delagard lag immer noch platt auf dem Deck, wohl eher benommen als verletzt, aber anscheinend unwillig oder unfähig, sich zu erheben. Onyos Felk kauerte am Vordermast und brabbelte leise wirres Zeug vor sich hin. Der Priester lag auf den Knien, schlug unablässig das Kreuzzeichen und murmelte Gebete. Dag Tharp, gelbäugig vor Angst, hatte die Hände in den Bauch verkrallt und krümmte sich in trockenen Brechanfällen. Lawler fragte kopfschüttelnd: »Und wer soll die Navigation machen?«
»Kommt’s darauf noch an? Wir müssen nur fort von dem Ding da und weiterfahren. Weg! Solang wir genug Leute für die Segelmanöver haben…«
Sundira musterte das Deck. »Pilya! Neyana! Schnappt euch die Taue da! Val, kannst du mit dem Steuerruder umgehen? Himmel! Der Anker ist ja noch drunten… Gabe! Gabe, hol um Himmels willen den Anker ein!«
»Lis kommt grad zu uns zurück«, bemerkte Lawler.
»Kümmere dich nicht darum. Hilf lieber Gabe mit dem Anker!«
Doch es war schon zu spät. Lis hatte bereits die halbe Distanz mit kräftigen leichten Schwimmstößen hinter sich gebracht. Und Gharkid kam direkt hinter ihr her. Sie machte im Wasser halt und schaute zu ihnen herauf, und ihre Augen waren nicht mehr die ihren, sondern neue Augen, fremd und unmenschlich.
»Gott erbarme sich unser aller Seelen«, murmelte Father Quillan. »Jetzt zerren sie alle beide an uns!« In seinen Augen stand Entsetzen. Er bebte krampfartig am ganzen Leib. »Ich fürchte mich, Lawler. Hier ist, wonach ich mein Leben lang gestrebt habe, und jetzt, wo es — greifbar nahe ist, fürchte ich mich. Ich fürchte mich schrecklich!« Flehentlich streckte er Lawler die Hände entgegen. »Hilf mir! Bring mich unter Deck! Sonst werde ich schwach und geh da hinüber. Ich kann nicht mehr dagegen ankämpfen.«
Lawler ging auf ihn zu. »Laß ihn doch gehen!« rief Sundira heftig. »Uns bleibt keine Zeit. Und er nutzt uns sowieso nichts.«
»Hilf mir!« winselte der Priester. Er schob sich mit den gleichen schlurfenden gleitenden trancehaften Schritten wie Lis auf die Reling zu. »Mein GOTT ruft mich und ich schrecke davor zurück, zu IHM zu gehen!«
»Das ist nicht dein Gott, der dich da ruft«, sagte Sundira scharf. Inzwischen rannte sie herum und war überall zugleich, versuchte die anderen mit ihrer Energie sozusagen zur Aktivität zu galvanisieren, doch schien es nichts zu bewirken. Pilya starrte in die Takelung hinauf, als hätte sie noch nie zuvor so etwas wie ein Segel gesehen. Neyana war allein auf dem Vordeck und sang monoton leise vor sich hin. Kinverson hatte überhaupt nicht auf die Aufforderung reagiert, sich um den Anker zu kümmern, sondern stand stocksteif und mit weitgeöffneten leeren Augen mittschiffs, wie in einer für ihn ganz atypischen spirituellen Kontemplation gefangen.
Kommt zu uns, sagten Gharkid und Lis. Kommt doch, kommt zu uns! Kommt!
Lawler zitterte am ganzen Leib. Der Sog war inzwischen viel stärker geworden als zuvor, als Gharkid allein sie zu locken versucht hatte. Lawler hörte ein klatschendes Geräusch im Wasser. Wieder war jemand über Bord gesprungen. Felk? Tharp? Nein. Tharp kauerte noch immer da drüben wie eine kleine Stinkmorchel. Aber Felk war weg. Und dann sah Lawler, wie auch Neyana über die Bordwand stieg und ins Wasser sprang.
Einer nach dem anderen werden wir alle so verschwinden, dachte er. Einer nach dem anderen. Und aufgehen in der fremdartigen Entität da drüben.
Er kämpfte mit aller Kraft dagegen an. Er rief die Sturheit und Hartnäckigkeit seines Wesens auf den Plan, seine leidenschaftliche Liebe zur Abgeschirmtheit und Unberührtheit, die heftige, arrogant streitlustige Beharrlichkeit, mit der er seinen ganz persönlichen, ganz eigenen Weg gehen wollte, und formte sich daraus eine Waffe gegen das, was ihn da forderte. Er wickelte sich in seine lebenslange Einsamkeit und Isolation zurück und schlug sie um sich, als wäre es ein unsichtbar machender Mantel.
Und es schien zu funktionieren. Der Sog war stark — und er wurde immer stärker, doch er vermochte Lawler nicht über die Reling zu ziehen. Der Außenseiter bis zum Ende, dachte er, der ewige Einzelgänger, ich spiele nicht einmal bei der Vereinigung mit, die dieses mächtige gefräßige Ding da drüben überm Wasser uns anbietet.
»Bitte«, flehte Father Quillan fast winselnd. »Wo ist die Deckluke? Ich kann sie nicht finden!«
»Komm mit«, sagte Lawler. »Ich bring dich runter.«
Er sah Sundira verzweifelt am Ankerspill kurbeln, wo sie allein versuchte, den Anker zu lichten. Aber dafür war sie nicht kräftig genug; einzig Kinverson von ihnen allen vermochte das alleine. Lawler zögerte. Da war Quillans Hilfsbedürftigkeit, und dagegen stand die dringlichere Aufgabe, das Schiff freizubekommen.
Delagard war endlich wieder auf den Beinen und kam auf ihn zugetaumelt wie einer, der einen Schlaganfall erlitten hat. Lawler schob ihm den Priester in die Arme.
»Da! Halt ihn fest, sonst geht er uns über Bord.«
Dann lief er zu Sundira. Doch plötzlich stellte sich ihm Kinverson in den Weg und schleuderte ihn mit einem Stoß seiner Pranke gegen die Brust zurück.
»Der Anker…«, hustete Lawler. »Wir müssen den Anker einholen…«
»Nein. Laß das!«
Kinversons Augen waren sehr eigenartig und wie nach oben verdreht.
»Also du auch?« fragte Lawler.
Er hörte hinter sich ein Grunzen und dann wieder ein Aufklatschen. Er drehte sich um. Delagard stand allein an der Reling und schaute auf seine Hände, als fragte er sich, wozu sie taugten. Quillan war verschwunden. Lawler sah ihn drunten mit erhabener Unbeirrbarkeit durchs Wasser schwimmen. Er war im Endspurt auf seinem Weg zu ›Gott‹ — oder was immer dort drüben war. Endlich.
»Val!« Sundira mühte sich noch immer am Ankerspill ab.
»Hat keinen Zweck«, rief er zurück. »Sie gehen alle über Bord!«
Am Ufer konnte er Gestalten sehen, die stetig tiefer in die wogenden Vegetationsdschungel eindrangen. Neyana, Felk. Und nun auch Quillan, der an Land kroch und ihnen folgte. Gharkid und Lis waren bereits verschwunden.
Lawler zählte im Geist ab, wer noch an Bord verblieben war: Kinverson, Pilya, Tharp, Delagard, Sundira. Machte mit ihm selbst sechs Personen. Aber Tharp sprang in eben diesem Moment ins Wasser. Also fünf. Ganze fünf Menschen von allen, die aus Sorve aufgebrochen waren.
Kinverson sagte: »Dieses elendige beschissene Leben: Und wie hab ich jeden einzelnen scheißestinkenden Tag davon gehaßt! Und mir gewünscht, ich war nie geboren. Das hast du nicht gewußt? Aber was hast du überhaupt je gewußt? Was weiß überhaupt jemals einer vom anderen? Ihr alle habt gedacht, ich bin zu groß und stark, mir kann nichts was anhaben, mir tut nie was weh. Weil ich nie was gesagt habe, ist keiner auf die Idee gekommen. Aber ich hab gelitten… in jeder gottverfluchten Minute. Tag für Tag. Und keiner hat es gemerkt. Keiner.«
»Gabe!« rief Sundira.
»Und du, geh mir, verdammt noch mal, aus dem Weg, oder ich zerreiß dich in zwei Teile.«
Lawler sprang hinüber und schlang die Arme um ihn. Kinverson wischte ihn von sich, als wäre er ein Strohhalm, sprang mit einem geschmeidigen Satz auf den Handlauf der Reling und hechtete ins Meer.
Vier.
Aber wo war Pilya? Lawler blickte sich um und sah sie — nackt und schimmernd im Sonnenglast — droben in der Takelung immer höher in die Toppen steigen. Wollte sie etwa von dort oben…? Sie wollte und tat es.
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