»Also ich würde sagen, es ist angenehm. Bloß wir drei, und jeder mit seinem eigenen Kopf und Verstand, und keiner predigt uns vom Himmel hoch herab. Solang es dauert, bis das wieder losgeht.«
»Und wird es wieder losgehen?« fragte Sundira.
»Ich vermute es«, erwiderte Lawler. »Und wir werden wieder von vorn anfangen müssen und uns dagegen zur Wehr setzen müssen. Wir dürfen nicht zulassen, daß wir von dem da einfach verschluckt werden. Menschliche Wesen sollen sich nicht in einer außermenschlichen Welt integrieren. Wir sind nicht dafür bestimmt.«
Delagard sagte mit seltsam weicher, beinahe sehnsüchtiger Stimme: »Aber er klang doch ganz glücklich, oder?«
»Glaubst du?« fragte Lawler.
»Ja, tu ich. Die ganze Zeit über war er so seltsam, so traurig, so abweisend. Hat nach seinem Gott gesucht und sich gefragt, wo der ist. Nun, jetzt weiß er’s und ist endlich bei ihm.«
Lawler warf ihm einen fragenden Blick zu. »Ich hatte nicht vermutet, daß du an einen Gott glaubst, Nid. Denkst du jetzt etwa, daß dieses ›Antlitz‹ da drüben Gott ist?«
»Quillan glaubt es. Und Quillan ist glücklich. Zum erstenmal in seinem Leben.«
»Quillan ist tot, Nid. Was immer da grad zu uns geredet hat, war nicht Quillan!«
»Er klang aber ganz wie Quillan. Also ja, Quillan und noch wer anderes, aber eben doch Quillan.«
»Wenn du das gern glauben willst…«
»Will ich«, sagte Delagard und stand plötzlich auf, ein wenig schwankend, als mache ihn die Anstrengung schwindelig. »Ich geh auch da rüber — und melde mich als Freiwilliger.«
Lawler starrte ihn stumm an. »Also auch du?« sagte er dann benommen.
»Ja, auch ich. Und versuch nicht, mich daran zu hindern. Ich bring dich um, wenn du das versuchen solltest. Weißt du noch, was Lis mit mir gemacht hat, als ich sie aufhalten wollte? Uns hält man nicht auf, Doc!«
Lawler starrte ihn noch immer verwirrt an. Der meint das ernst, dachte er. Der meint das wirklich ernst! Und er will tatsächlich da rüber. Das kann doch nicht der echte Delagard sein? Doch, natürlich war es der alte echte Delagard! Aber natürlich! Delagard war schon immer ganz groß darin, jeweils das zu tun, was für Delagard am vorteilhaftesten war, gleichgültig was für Auswirkungen das auf seine Umwelt haben mochte…
Ach, zum Teufel mit dem Kerl! Mit Handkuß und je eher, desto besser!
»Dich aufhalten?« sagte Lawler. »Das würde mir nicht im Traum in den Kopf kommen. Geh nur, Nid. Wenn du meinst, du bist da glücklich, dann geh. Geh! Wieso sollte ich dich aufhalten wollen? Was macht das jetzt schon für einen Unterschied, das alles?«
Delagard lächelte. »Für dich vielleicht nicht. Aber für mich ist er immens. Doc, ich bin dermaßen beschissen müde. Ich war ein Sack voller großer Träume. Ich hab es mit dem Trick versucht und dann mit einem neuen, und eine ganze Weile hat alles geklappt. Und dann bin ich hier gelandet, und alles ist zerbrochen und zerstoben. Ich bin zu Bruch gegangen! Na ja, also jedenfalls ich scheiß drauf. Ich will jetzt endlich meine Ruhe finden.«
»Du willst dich umbringen, meinst du?«
»Ach, du denkst, das hätte ich damit gemeint? Aber so was würde ich nie machen. Ich hab bloß die Schnauze voll, ich bin es leid, der Kapitän sein zu müssen. Auf dem Schiff und überhaupt. Es kotzt mich an, daß ich Menschen befehlen muß, was sie tun sollen, besonders jetzt, wo ich erkenne, daß ich selber auch bloß ein verdammter beschissener Arsch bin und keine Ahnung habe, was ich tue. Nein, Doc, ich hab die Schnauze voll. Ich wechsle über.« Delagards Augen leuchteten in einer frischen, ihm gerade zugeströmten Energie. »Vielleicht bin ich ja überhaupt nur dafür den ganzen Weg bis hierher gegangen, und hab es bis zu diesem Moment nicht begriffen. Vielleicht hat das ›Antlitz‹ uns damals Jolly geschickt, um auch uns versprengten Rest heim in seinen Bereich zu holen — aber dann vergingen vierzig Jahre, und dann kamen nur einige wenige von uns.« Inzwischen wirkte Delagard beinahe fröhlich und kess unbekümmert. »Ciao. Doc! Ciao, Sundira! Es war nett mit euch. Kommt mich doch mal besuchen.«
Sie schauten ihm nach.
»So, also jetzt gibt’s nur noch dich und mich, Kleines«, sagte Lawler zu Sundira. Und dann lachten sie. Was sonst hätten sie auch tun können, als zu lachen?
* * *
Die Nacht kam. Eine Nacht der Kometen und Wunder, voll vielfarbiger funkelnder Lichter. Nach Einbruch der Dunkelheit waren Sundira und Lawler an Deck geblieben, hatten still am Hauptmast gesessen und nur hin und wieder ein Wort gewechselt. Lawler fühlte sich wie betäubt, wie ausgebrannt von den Ereignissen des Tages. Und Sundira schien ebenfalls erschöpft und blieb stumm.
Droben fanden gewaltige Farbexplosionen im Himmel statt. Zur Feier der neuen Konvertiten, dachte Lawler. Die Aurae seiner einstigen Schiffsgefährten schienen am Himme l zu leuchten und zu funkeln. Der große stürmisch-blaue Schwall da drüben, war das Delagard? Und dieses warme Bernsteinglühen? — Quillan? Und konnte diese scharlachrote Säule da Kinverson sein? Und dieser Spritzer geschmolzenen Goldes überm Horizont — Pilya Braun? Und Felk — und Tharp — Neyana — Lis — Gharkid…
Der emotionale Eindruck war, als wären sie allesamt ganz dicht in seiner Nähe, jeder einzelne von ihnen.
Das Firmament kochte und brodelte von pulsierenden Farben. Aber wenn Lawler sich mühte, ihre Stimmen auszumachen, konnte er sie nicht hören. Da war nur ein warmes harmonisches undifferenziertes Tönen.
Am Ende der kleinen Bucht setzte sich über dem dunkler werdenden Horizont das wildwuchernde Wachstum der Vegetation auf der Insel ungehemmt fort: Es sproßte und zuckte und bebte vor dem dunkleren Himmel und sprühte Funkenregen leuchtender Energie empor. In Wellen strömte das Licht in den Himmel. Unablässig, ohne Pause ging das so weiter dort drüben. Lawler und Sundira saßen da bis tief in die Nacht und betrachteten sich das Schauspiel. Irgendwann stand Lawler auf und sagte: »Hast du denn keinen Hunger?«
»Überhaupt keinen.«
»Ich auch nicht. Aber — laß uns dann wenigstens ein bißchen schlafen.«
»Ja, du hast recht.«
Sie streckte ihm die Hand hin, und er zog sie auf die Füße. Dann standen sie eng beisammen an der Reling und starrten zur Insel hinüber.
»Spürst du irgendwas von diesem Sog?« fragte sie.
»Ja. Er ist immer da — wartet bloß auf seine Chance, nehme ich an. Auf den Moment, wo es uns unvorbereitet und schutzlos erwischen kann.«
»Ja. Ich spür es auch. Es ist nicht mehr so stark wie vorher, aber ich weiß, das ist nur ein Trick, um uns einzulullen. Ich muß meinen Kopf die ganze Zeit zusammenhalten wie eine geballte Faust, um mich dagegen zu wehren.«
»Ich überlege mir schon die ganze Zeit, wieso ausgerechnet wir zwei als einzige diesem Zwang widerstehen konnten, ebenfalls rüberzugehen«, sagte Lawler. »Sind wir stärker und gesünder als die anderen, besser ausgerüstet für ein Leben als Monade in den Grenzen der eigenen Individualität? Oder ganz schlicht dermaßen darauf konditioniert, uns als anders und abgehoben von der uns umgebenden Gesellschaft zu fühlen, daß es uns einfach unmöglich ist, uns selber mal loszulassen und in ein Gruppenfeeling einzutauchen.«
»Bist du dir in deinem Leben auf Sorve wirklich so isoliert vorgekommen, Val, so nicht dazugehörend?«
Er dachte darüber nach. »Vielleicht ist ›nicht dazugehörend‹ ein zu starkes Wort. Ich war durchaus Teil der Sorve-Gemeinde, und sie betrachteten mich als zu ihnen gehörig. Aber ich gehörte eben nicht so dazu, wie die meisten anderen Menschen dort. Ich stand immer ein bißchen abseits.«
»So war das auch bei mir, auf Khamsilaine. Aber ich glaube, ich war noch nie besonders gut, wo es um feste Bindungen an Gruppen oder so geht.«
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