»Ist das eine Art, mit deinem Vater zu sprechen?«
»Du bist nicht mein Vater. Du bist entweder ein besonders übler Traum oder eine trügerische Illusion, die von irgendeinem telepathischen Seeigel oder Drachenfisch da draußen im Ozean ausgelöst wird. Mein Vater würde niemals so was gesagt haben. Nicht mal wenn er als Gespenst wiederkommen würde — was er übrigens ebenfalls nicht getan hätte. Herumspuken, das hätte nicht zu seinem Stil gepaßt. Also, verschwinde und laß mich in Ruhe!«
»Valben, Valben, Valben!«
»Was willst du denn noch? Wieso läßt du mich denn nicht in Frieden?«
»Valben, mein Junge…«
Lawler merkte plötzlich, daß er die hohe Schattengestalt nicht mehr sehen konnte.
»Wo bist du?«
»Überall um dich herum und nirgendwo.«
Lawler schwirrte der Kopf. In seinem Magen drehte sich etwas. Im Dunkel tastete er nach seiner Taubkrautflasche. Dann fiel ihm ein, daß sie leer war.
»Was bist du?«
»Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, und wäre er auch tot, soll das Leben haben.«
»Nein!«
»Gott schütz dich, alter Seemann! Vor deinen bösen Feinden, die dich so quälen…«
»Das ist Wahnsinn! Hör auf! Schluß damit! Verschwinde von hier! Raus!« Er zitterte jetzt, als er nach seiner Lampe tastete. Das Licht würde diesen Spuk vertreiben. Doch noch ehe er die Lampe fand, spürte er mit großer Schärfe, daß er wieder allein war, und begriff, daß die Vision (oder was sonst es gewesen war) ihn freiwillig verlassen hatte.
Dieses Verschwinden hinterließ eine unerwartete, sirrende Leere.
Lawler empfand das wie einen Schock, wie nach einer Amputation. Dann hockte er eine Weile auf der Kante seines Lagers, schweißüberströmt und frierend wie in den scheußlichsten Momenten seiner Entzugsphasen.
Dann stand er auf. An Schlaf war wahrscheinlich jetzt nicht mehr zu denken. Er stieg an Deck. Am Himmel hingen ein paar Monde, die durch die aus der See aufsteigende Lumineszenz eine ungewohnte blauviolette und grüne Tönung hatten, einer Lumineszenz, die vom westlichen Horizont heraufquoll und nun die ganze Zeit in der Luft zu hängen schien. Das ›Hydros-Kreuz‹ selbst, schief wie ein weggeworfenes Stück Filigranschmuck an einem Himmelswinkel hängend, pulste von Farbe, was Lawler noch nie vorher erlebt hatte: Von den zwei großen Armen strömten starke verwirrende türkis- und bernsteinfarben, scharlachrote und ultramarinfarbene Schlieren.
Niemand schien Deckdienst zu machen. Die Segel standen, das Schiff zog gefügig in der leichten steten Brise dahin, aber an Deck schien niemand zu sein. Das versetzte Lawler für einen Moment einen scharfen Stich der Angst. Eigentlich hätte die Erste Wache Dienst tun müssen: Pilya, Kinverson, Gharkid, Felk, Tharp. Wo steckten die denn? Sogar am Ruder stand keiner. Steuerte das Schiff sich etwa selber?
Anscheinend ja. Und ab vom Kurs noch dazu. In der letzten Nacht, erinnerte er sich, war das KREUZ steuerbords vom Bug gestanden. Jetzt stand es querschiff. Sie zogen nicht länger nach West-Südwest, sondern waren in scharfem Winkel vom Kurs abgewichen.
Benommen schlich er sich übers Deck. Als er zum Heckmast kam, sah er dort Pilya auf einer Taurolle schlafen, und gleich daneben schnarchte Tharp. Wenn Delagard das wüßte, er würde sie auspeitschen. Und nicht weit davon saß Kinverson mit dem Rücken gegen die Reling. Seine Augen standen offen, aber auch er schien zu schlafen.
»Gabe?« sagte Lawler leise. Er kniete nieder und fuhr mit den Fingern vor Kinversons Gesicht hin und her. Keine Reaktion. »Gabe, was ist denn los? Bist du hypnotisiert?«
»Er erholt sich«, kam überraschend von hinten die Stimme von Onyos Felk. »Stör ihn nicht. Es war eine harte Nacht. Wir haben stundenlang in der Takelung geschuftet. Aber schau mal jetzt: Da — da direkt vor uns liegt das LAND. Und wir machen gute Fahrt darauf zu.«
Land? Wann hatte je einer auf Hydros von Land gesprochen?
»Was quasselst du da?« fragte Lawler.
»Dort. Siehst du es nicht?«
Felk zeigte unbestimmt in Richtung Bug. Lalwer schaute hin und sah — nichts, nur die Weite der leuchtenden See und einen klaren Horizont, der sich einzig durch ein paar tiefstehende Sterne und eine sich in mittlerer Höhe ausbreitende dichte Wolke auszeichnete. Und der schwarze Vorhang hinter dem Firmament schien unheimlich in einer wilden brennenden Aurora zu lodern. Überall Farben, ungewohnte Farben, eine Phantasia niegesehenen Lichts. Aber kein Land.
»Während der Nacht«, sagte Felk, »hat sich der Wind gedreht und uns da drauf zugetrieben. Was für ein unglaublicher Anblick das ist! Diese Berge! Diese grandiosen Täler! Hättest du es je für möglich gehalten, Doc? Das Feste über den Wassern!« Felk klang, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. »Mein ganzes Leben lang hab ich auf meine nautischen Karten gestarrt und diesen dunklen Flecken auf der anderen Halbkugel gesehen — und jetzt — jetzt schauen wir ihn direkt — von Angesicht zu Angesicht, Doc! Das ›Antlitz‹ selbst!«
Lawler preßte die Arme eng an die Flanken. In der tropisch-heißen Nacht überlief ihn plötzlich ein Frostschauder. Er sah noch immer ganz und gar nichts, nur die unendlich sich breitende rollende See.
»Hör mal, Onyos, falls Delagard verfrüht an Deck kommt und eure ganze Wache da schlafend vorfindet, dann weißt du doch, was passiert. Um Himmels willen, wenn du sie schon nicht wecken willst, dann tu ich es!«
»Laß sie schlafen. Bis zum Morgen haben wir das ›Antlitz‹ erreicht.«
»Welches Antlitz? Wo?«
»Na dort, Mann! Dort!«
Lawler sah noch immer nichts. Er eilte nach vorn. Am Bug entdeckte er Gharkid, den letzten dieser Wache, der ihm noch gefehlt hatte, mit überkreuzten Beinen wie eine Statue oben auf dem Vordeck thronen. Den Kopf hatte er in den Nacken geworfen, und die Augen standen weit offen und waren starr wie zwei Murmeln. Genau wie Kinverson befand er sich ganz und gar in einem entrückten Zustand.
Verwirrt spähte Lawler in die Nacht hinaus. Das bestürzende labyrinthische Farbenspiel tanzte weiter vor ihm, aber sonst sah er immer noch nur leere See und einen leeren Himmel voraus. Dann veränderte sich auf einmal etwas. Als wäre sein Sehvermögen getrübt gewesen und als könnte er auf einmal endlich wieder klar sehen. Er gewann den Eindruck, als hätte sich ein Teil des Himmels abgelöst und sich auf die Fläche des Wassers niedergesenkt und bewegte sich nun dort auf höchst komplizierte Weise, als ballte sich dieses Etwas in sich zusammen und noch einmal, bis es wie ein zerknautschter Papierbogen aussah, und dann wie ein Bündel von Stäben, und dann wie ein Gewirr von wütenden Schlangen, und dann wie Kolben, die von einer unsichtbaren Maschinerie bewegt werden. Über dem Horizont war in ganzer Breite ein zuckendes in sich verschlungenes Netzgeflecht von unerahnbarer Beschaffenheit aufgetaucht. Die Augen schmerzten ihn vom Hinschauen.
Felk kam zu ihm.
»Na, siehst du es jetzt? Ja?«
Lawler merkte, daß er ziemlich lange den Atem angehalten hatte. Er stieß ihn langsam aus.
Etwas wie eine Luftbrise, aber es war etwas anderes, wehte ihm ins Gesicht. Er wußte, es konnte kein Wind sein, denn diesen konnte er ebenfalls fühlen, und er wehte vom Heck her, und als er in die Masten schaute, sah er, daß die Segel sich nach vorn bauschten. Also keine Brise. Eine — Ausstrahlung. Eine Kraft. Strahlung. Auf ihn gerichtet. Er spürte es sacht durch die Luft knistern, fühlte, wie es ihm gegen die Wangen schlug wie feine Eiskristalle in einem Wintersturm. Er stand bewegungslos da, von Furcht und Ehrfurcht wie gelähmt.
»Siehst du?« fragte Felk noch einmal.
»Ja. Ja, jetzt sehe ich es.« Er wandte sich dem Kartographen zu. In dem seltsamen Licht, das von Westen her über sie hereinströmte, sah Felks Gesicht aus wie eine gemalte Trollmaske. »Trotzdem weckst du wohl lieber die Leute von deiner Deckswache. Ich gehe runter und wecke Delagard. Wie immer man es ansieht, er hat uns schließlich bis hierher gebracht. Und wie auch immer, er hat es nicht verdient, den Augenblick unserer Ankunft zu verpassen.«
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