Sundira verbrachte eine Stunde unter Quillans Suada, und als Lawler sie dann traf, wirkte sie nachdenklich und verwirrt. »Der arme Mann«, sagte sie. »Ein Paradies… und heilige Gespenster, die durchs Unterholz ziehen und den Pilgern ihre Segnungen anbieten… Diese vielen Wochen auf See müssen ihn um den Verstand gebracht haben.«
»Falls er je so was besessen haben sollte.«
»Er sehnt sich so stark danach, sich an etwas ausliefern zu können, das größer und weiser ist als er. Er hetzt schon sein ganzes Leben lang hinter seinem Gott her. Aber ich glaube, er sucht einfach nach einem Weg, wie er wieder zurück in den Schoß seiner Mami kriechen kann.«
»Wie scheußlich zynisch, so was zu sagen.«
»Aber stimmt es denn nicht?« Sundira bettete den Kopf in Lawlers Schoß. »Was hältst du denn davon? Ergibt irgendwas von seinem mathematischen Hokuspokus irgendeinen Sinn für dich? Oder seine Theologie? Das Paradies? Eine Insel der Heiligen Geister?«
Er strich ihr über das dichte dunkle Haar. Die Wochen und Monate der Reise hatten es gröber werden lassen, und es sah brüchig und kraus aus, war aber noch immer wunderschön.
»Teilweise schon. Jedenfalls begreife ich seine Metaphorik. Aber es ist bedeutungslos, verstehst du? Für mich. Meinetwegen soll es eine Unendlichkeit von klar abgestuften Schichten von Göttern im Universum geben, und jeder davon genau sechzehnmal mehr Augen haben als die im Rang unter ihm, und Quillan könnte mir den absoluten unwiderlegbaren Beweis für die tatsächliche Existenz des ganzen höchst raffinierten Zaubers liefern, und es würde mir noch immer nichts bedeuten. Ich lebe in dieser Welt — und nur hier —, und hier gibt es keine Götter. Und was möglicherweise in höheren Rängen passiert, falls es die gibt, dann kratzt mich das nicht.«
»Das bedeutet aber nicht, daß es keine höheren Ränge gibt.«
»Nein. Da hast du wahrscheinlich recht. Aber wer kann das schon wissen? Der alte Seebär, der uns als erster von dem Land über den Wassern berichtet hat, der hatte auch ein Märchen, eine wilde Geschichte von einer großen Stadt unter der See, dicht an der Küste, die von Super-Sassen bewohnt war. Nun, das könnte ich ebenso leicht glauben, nehme ich an, wie Quillans theologisches Potpourri. Aber tatsächlich glaube ich gar nichts davon. Kann einfach nicht. Für mich ist die eine Vorstellung ebenso unsinnig wie die andere.«
Sie bog den Kopf zu ihm hoch und blickte ihn an. »Aber nehmen wir doch nur mal hypothetisch an, es gibt wirklich in der Nähe von diesem ›Antlitz‹ eine unterseeische Stadt, und dort lebt wirklich eine besondere Art von Sassen. Wenn das so wäre, dann würde sich damit erklären, warum die uns bekannten Sassen dieses ›Antlitz‹ als eine heilige Insel ansehen und sich davor fürchten, sie zu betreten oder auch nur in ihre Nähe zu gehen. Und wenn das nun götter-ähnliche Wesen sind, die dort wohnen?«
»Warten wir doch ab und sehen, was dort ist, wenn wir dort sind, dann gebe ich dir darauf eine Antwort, gut so?«
»Ja, gut so«, sagte Sundira.
* * *
Um die Mitte der Nacht fand sich Lawler plötzlich hellwach, und es war jene Art von Wachheit, die mit Gewißheit bis zur Dämmerung anhalten würde. Er richtete sich auf, rieb sich die schmerzende Stirn und hatte auf einmal das Gefühl, daß jemand ihm den Schädel aufgeklappt habe, während er schlief, und ihn mit einer Million blitzender dünner, glühender Drähtchen vollstopfte, die nun mit jedem seiner Atemzüge sich gegenläufig aneinander rieben.
Außerdem war da jemand in seiner Kabine. Im schwachen Sternenlicht, das durch das eine Bullauge drang, erblickte er vor der Wand eine große breitschultrige Gestalt, die ihn still zu betrachten schien. Kinverson? Nein, nicht ganz wuchtig genug für Kinverson, und wozu sollte auch Kinverson bei ihm mitten in der Nacht in die Kabine kommen? Aber kein anderer Mann an Bord war auch nur annähernd so groß.
»Wer ist da?« fragte Lawler.
»Erkennst du mich denn nicht, Valben?« Eine dunkle Stimme, wundervoll ruhig und selbstsicher.
»Wer bist du?«
»Schau nur genau her, Junge.« Der Eindringling drehte sich zur Seite, so daß sein Profil ins Licht kam. Lawler erblickte ein kräftiges Kinn mit einem dichten schwarzen Krausbart, eine gerade Herrschernase. Vom Bart abgesehen, hätte es sein eigenes Gesicht sein können. Nein, die Augen waren anders. In ihnen lag ein starkes Leuchten, und der Ausdruck darin war zugleich strenger und mitleidvoller, als dies bei Lawler der Fall war. Er kannte diesen Ausdruck. Ein Schaudern lief ihm über den Rücken.
»Ich hab gedacht, ich bin wach«, sagte er ruhig. »Aber jetzt merke ich, daß ich noch immer träume. Hallo, Vater. Schön, dich mal wieder zu sehen. Es ist schon so lang her.«
»Ach ja? Nicht für mich.« Der große Mann trat ein paar Schritte auf ihn zu. In der engen Kabine brachte ihn das fast an die Kante der Koje. Er trug ein dunkles altmodisches zerknittertes Oberkleid, an das Lawler sich gut erinnerte. »Es muß aber doch schon eine Weile her sein. Du bist jetzt ja ganz erwachsen, Sohn. Älter als ich, nicht wahr?«
»So ungefähr gleichaltrig inzwischen.«
»Und bist ein Doktor. Ein guter, wie ich höre.«
»Nein, nicht wirklich. Ich geb mein Bestes. Aber das ist nicht gut genug.«
»Dein Bestes ist immer gut genug, Valben, wenn es wirklich dein Bestes ist. Das habe ich dir doch oft genug gesagt, aber wahrscheinlich hast du mir nicht geglaubt. Solange du dich nicht schonst und dich drückst, solange dir wirklich was an deiner Arbeit liegt. Ein Arzt, Junge, der kann im Privaten ein absoluter Schweinehund sein, aber solange er sich um seine Patienten sorgt, ist er in Ordnung. Solang er begreift, daß er da ist, um zu beschützen, zu heilen, zu lieben. Und ich glaube, du hast das begriffen.« Er setzte sich ans Ende der Koje. Er schien sich hier durchaus nicht fremd zu fühlen. »Du hattest keine Familie, nicht wahr?«
»Nein, Herr… Vater.«
»Schlimm-schlimm. Du wärst auch ein guter Vater geworden.«
»Wär ich das?«
»Es hätte dich natürlich verändert. Aber ich denke, zum Besseren. Bereust du es nicht?«
»Ich weiß nicht so recht. Vielleicht. Ich bereue eine ganze Menge. Ich bedaure, daß meine Ehe schiefgegangen ist. Daß ich nie wieder geheiratet habe. Ich bedaure, daß du so schrecklich früh gestorben bist, Vater.«
»War es denn so früh?«
»Für mich schon.«
»Ja. Ja, wahrscheinlich hast du recht.«
»Ich hab dich geliebt, Vater.«
»Auch ich hab dich geliebt, Junge. Ich liebe dich immer noch. Ich liebe dich sehr. Und ich bin sehr stolz auf dich.«
»Du redest, als lebtest du noch. Aber das alles ist bloß ein Traum. Also kannst du sagen, was du willst, ja?«
Die Gestalt erhob sich und trat wieder ins Dunkel zurück. Es sah aus, als umhüllte sie sich mit Schatten.
»Es ist kein Traum, Valben.«
»Nein? Ja also dann… Du bist doch trotzdem tot, Vater. Schon seit fünfundzwanzig Jahren. Wenn das kein Traum ist, wieso bist du dann hier? Wenn du ein Gespenst bist, ein Geist, wieso hast du dir so lange Zeit gelassen, bevor du mich heimsuchst?«
»Weil du niemals zuvor dem ›Antlitz‹ so nahe gewesen bist.«
»Was hat denn das mit dir oder mir zu tun?«
»Ich lebe dort, Valben.«
Lawler mußte unwillkürlich lachen. »Sowas könnte ein Gillie sagen. Nicht du.«
»Nicht nur Gillies werden dorthin versetzt und wohnen dort, mein Sohn.«
Die ruhige, sachliche und bestürzende Behauptung hing in der Luft wie eine Wolke voll ansteckender Giftkeime. Er begann allmählich zu begreifen, und in ihm stieg Verärgerung auf.
Er fuchtelte mit den Händen wütend gegen das Phantom. »Verschwinde von hier. Laß mich schlafen!«
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