Quillan warf ihm aus glühenden Augen einen überraschten Blick zu.
»Aber stimmt es nicht, daß deine Kirche den Selbstmord für eine der allerschwersten Sünden hält?«
»Du sprichst von Selbstmord, nicht ich.«
»Ja. Aber du bist derjenige, der den seinigen plant.«
»Du begreifst ja gar nicht, was du damit sagst, Lawler. Und in deiner Unwissenheit verzerrst und verdrehst du alles.«
»Ach? Ich?« fragte Lawler. »Tu ich das wirklich?«
Am späten Nachmittag desselben Tages gab Delagard Order, den Anker zu lichten, und sie fuhren weiter gen Westen die Küste entlang. Es ging ein heißer steter Wind landwärts, als versuchte die riesige Insel sie zu sich zu holen.
»Val?« rief Sundira von oben. Sie hing direkt über ihm in der Takelung und machte die Stagen an der Vorderrah fest.
Er schaute zu ihr hinauf.
»Wo sind wir, Val? Was wird mit uns passieren?« Sie fröstelte in der tropischen Wärme. Beklommen spähte sie zur Insel hinüber. »Es sieht so aus, als wäre meine Vermutung von irgendeiner nuklearen Verwüstung falsch gewesen. Trotzdem sieht es da drüben zum Fürchten aus.«
»Ja.«
»Und dennoch zieht es mich da irgendwie hin. Ich will noch immer wissen, was da wirklich ist.«
»Etwas Übles, das ist es«, sagte Lawler. »Und das kannst du schon von hier aus erkennen.«
»Es war doch so einfach für uns zwei, das Schiff an die Küste laufen zu lassen. Du und ich, Val, wir könnten es gleich jetzt machen, nur zu zweit…«
»Nein!«
»Aber warum denn nicht?« Ihre Frage klang allerdings nicht sehr bestimmt. Sie schien gegenüber der Insel ebenso mißtrauisch zu sein wie er. Ihre Hände zitterten so stark, daß sie ihren hölzernen Hammer fallen ließ. Lawler fing ihn und warf ihn ihr wieder hinauf. »Was würde mit uns passieren, was meinst du, wenn wir dichter an die Küste gingen?« fragte sie. »Rauf auf das Flache selber?«
»Das laß jemand anders für uns rausfinden«, sagte Lawler grob. »Soll doch Gabe Kinverson da rübergehen, wenn er den Mut hat. Oder unser Father Quillan. Oder Delagard. Das hier ist Delagards Picknick — also soll er doch das Vergnügen haben und als erster an Land steigen. Ich bleib hier und schau mir an, was geschieht.«
»Klingt vernünftig, denk ich. Und trotzdem… trotzdem…«
»Du fühlst dich verlockt.«
»Ja.«
»Es geht ein Sog aus, nicht? Ich spüre ihn auch. Ich höre in meinem Innen etwas sagen wie: Nur zu, komm rüber, schau es dir an, was es da gibt. Es gibt auf der ganzen Welt nichts Vergleichbares. Das mußt du dir anschauen. Aber es ist ein verrückter Gedanke.«
»Ja«, sagte Sundira leise. »Du hast recht. Es ist verrückt.«
Dann schwieg sie und konzentrierte sich auf die Ausbesserungsarbeiten. Dann kam sie auf seine Höhe heruntergeklettert. Lawler berührte ihre nackte Schulter sacht mit den Fingerspitzen. Sie gab einen weichen Laut des Wohlbehagens von sich und kuschelte sich an ihn. So schauten sie zusammen auf die farbensprühende See hinaus, auf die verquollene untergehende Sonne und den bestürzenden Lichterdunst, der von der Insel drüben aufstieg.
»Val, kann ich heut nacht bei dir in deiner Kabine bleiben?« bat sie.
So etwas war noch nicht oft und nun schon seit längerem nicht mehr geschehen. Zu zweit waren sie einfach für den engen Raum und die schmale Koje zuviel.
»Aber gern.«
»Ich lieb dich, Val.«
Lawler ließ die Hände über ihre kräftigen Schulterblätter gleiten bis hinauf in den Nacken. Er fühlte sich stärker zu ihr hingezogen als je zuvor: Fast als wären sie zwei getrennte Hälften eines zerteilten Organismus und nicht bloß zwei Halbfremde, die der Zufall auf einer seltsamen Reise zu einem gefährlichen Ort zueinander getrieben hatte. War es diese Gefahr, überlegte er, die uns einander näherbrachte? War es — Gott behüte — die aufgezwungene Nähe mitten auf dem Ozean, die mich ihr gegenüber so schutzlos macht und so begierig darauf, sie dicht bei mir zu haben?
»Ich lieb dich«, flüsterte er.
Sie stürzten zu seiner Kabine hinunter. Noch nie hatte er sich Sundira so nahe gefühlt… noch nie irgendeinem Menschen sonst. Sie waren Verbündete, nur sie und er, allein gegen ein wirbelndes, verwirrend rätselhaftes Universum. Und sie hatten nur einander als Halt gegen dieses rätselhafte ›Antlitz‹, das sie in seinen Bann zu ziehen drohte.
Die Nacht war kurz; ineinander verschlungene Arme und Beine, schweißnasse nackte Haut, Körper die glitschig in- und umeinander glitten; immer wieder die Augen, die sich suchten, das Lächeln, das im Gesicht des anderen die lächelnde Antwort auslöste; die Atemströme, die sich mischten, leise gehauchte Worte, ihr Name aus seinem Mund, seiner von ihren Lippen; dann der Tausch von Erinnerungen; und die neuen Erinnerungen, die sie sich schufen. Sie schliefen keine Minute. Aber das macht gar nichts, sagte sich Lawler. Der Schlaf kann leicht neue Spukträume heraufbeschwören. Besser wir bringen diese Nacht wachend zu. Und in leidenschaftlicher Lust. Vielleicht ist morgen unser letzter Tag.
* * *
Im Morgengrauen stieg er an Deck. In den letzten Tagen war er zur Frühwache eingeteilt gewesen. Im Verlauf der Nacht, erkannte Lawler, war das Schiff wieder durch die Brecher landwärts vorgedrungen und ankerte nun in einer Bucht, die der ersten ziemlich ähnlich sah; allerdings wies die Küste keine Berge auf, nur flache Matten voll dicht wachsender dunkler Vegetation.
Diesmal schien die Bucht nichts gegen ihre Anwesenheit zu haben, ja sie sogar zu begrüßen. Die Wasserfläche war still, kein leichtes Kräuseln zeigte sich, keine Spur von dem peitschenden Kelp, dem wirbelnden Riementang, der sie fast sogleich aus der vorherigen Bucht vertrieben hatte.
Aber das Wasser war auch hier wie überall sonst lumineszent, und goldne und rosa und scharlachrote und saphirblaue Lichtkaskaden stiegen auf, und an Land setzte sich mit gewohnter Wildheit der unendliche Schleifentanz des Lebens fort. Purpurne Funken stiegen sprühend vom Land auf. Wieder war es, als brennte die Luft. Überall helle grelle Farben. Die wahnsinnige unerschöpfliche Großartigkeit und Pracht des Landes war schwer zu ertragen — als erste Eindrücke frühmorgens nach einer schlaflosen Nacht…
Delagard war auf der Brücke. Und er war allein und stand seltsam in sich verkrochen mit über der Brust gekreuzten Armen da.
»Komm doch her und red ein bißchen mit mir, Doc«, bat er.
Die Augen des Mannes waren trübe und gerötet. Er sah aus, als habe auch er keinen Schlaf gehabt, und nicht bloß in der letzten Nacht, sondern schon seit etlichen. Die Kinnbacken waren grau und hingen schlaff herab, und sein Kopf schien sich irgendwie in den dicken Hals und Nacken zurückgefaltet zu haben. Auf der einen Wange fiel Lawler ein nervöser Tic auf. Die Dämonen, von denen er tags zuvor bei der ersten Annäherung an die Küste besessen gewesen sein mochte, waren anscheinend während der vergangenen Nacht zu ihm zurückgekehrt.
Mit heiserem Ton sagte er: »Ich höre, daß du mich für übergeschnappt hältst.«
»Spielt es für dich die geringste Rolle, wenn ich das glaube?«
»Und wärst du vielleicht eine Spur glücklicher, wenn ich dir sag, daß ich fast schon selber anfange zu glauben, du hast recht? Fast. Fast.«
Lawler suchte nach einer Spur von Ironie in Delagards Worten, nach einem Hauch von Humor oder Spott. Doch da war nichts davon zu spüren. Die Stimme war schwer und heiser und klang brüchig.
»Da, schau dir die beschissene Gegend an«, krächzte er und fuhr mit den Armen in weiten Schwüngen durch die Luft. »Sieh es dir an, dieses Scheißland, Doc! Es ist eine Wüstenei! Eine Ödnis! Ein Alptraum! Warum nur bin ich bloß je hierher gefahren?« Er zitterte, und die Haut unter seinem Bart war bleich: Er wirkte furchterregend abgehärmt und zerknirscht. Mit leiser krächzender Stimme sagte er: »Bloß ein Irrer kann es soweit kommen lassen. Ich erkenne das ganz überdeutlich. Jetzt. Ich hab es gestern bereits begriffen, als wir in dieser Bucht da ankern wollten, aber ich hab das einfach weggeschoben und getan, als war es nicht so. Das war falsch. Aber immerhin, ich bin stark genug, das einzugestehen. Himmel, Doc, was war bloß in meinem Kopf los, daß ich uns hierher bringen konnte? Das ist kein Platz für uns!« Er wackelte mit dem Kopf. Als er dann weitersprach, war seine Stimme nichts weiter als ein angsterfülltes Krächzen. »Doc! Wir müssen weg von hier! Sofort!«
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