»Guten Morgen, Herr Doktor«, brummelte Natim Gharkid, zwanzig Schritt weiter vorn auf dem Weg und trat beiseite, um Lawler vorbeizulassen.
Gharkid war vor vier, fünf Jahren von einer anderen Insel nach Sorve gekommen. Ein Mann mit sanften Augen, einem weichen Gesicht und glatter dunkler Haut, dem es bislang irgendwie noch nicht gelungen war, sich auf irgendeine signifikante Weise in das Leben der Gemeinschaft einzugliedern. Er arbeitete als Algenfarmer und war auf dem Weg hinunter zur Lagune, um dort Tang zu ernten. Das war seine einzige Tätigkeit. Die meisten Menschen auf Hydros hatten Mehrfach-Jobs, weil es in einer dermaßen kleinen Population einfach nötig war, daß die Leute sich in mehreren Fertigkeiten versuchten. Doch Gharkid schien das nicht zu stören. Lawler selber war nicht nur der Insel-Doktor, sondern auch der Apotheker, der Meteorologe und der Bestatter — und wenn es nach Delagard ging, offenbar auch noch der Veterinär. Aber Gharkid war Algenfarmer — und sonst nichts. Lawler nahm an, daß er wohl eingeborener Hydrosianer sei, wußte es aber nicht mit Bestimmtheit, weil der Mensch so selten, wenn überhaupt, etwas über sich erzählte und preisgab. Er war die bescheidenste, unscheinbarste, zurückhaltendste Person, der Lawler jemals begegnet war: still, geduldig, zuverlässig, freundlich, aber unauslotbar, eine undeutliche stumme vorhandene Gestalt, nicht mehr.
Im Vorübergehen lächelten sie einander automatisch zu.
Dann kamen hintereinander drei Frauen. Alle drei in losen grünen Gewändern: die Schwestern, Halla, Mariam und Thecla. Vor etlichen Jahren hatten die drei drunten an der Inselspitze eine Art Kloster gegründet, hinter dem Aschenhof, wo alle möglichen Knochen gesammelt und zu Kalk weiterverarbeitet wurden, um dann zu Seifen, Tinte, Farben und hunderterlei verwendbaren chemischen Produkten veredelt zu werden. Normalerweise hielten sich dort nur die Aschenmeister auf; und die ›Schwestern‹, die hinter dem Abdeckerhof hausten, waren dort vor jeglicher äußeren Störung sicher. Aber alles in allem war es doch eine merkwürdige Wahl für ein Kloster. Seit der Gründung hatten sich die Schwestern darum bemüht, so wenig wie möglich mit Männern zu tun zu haben. Inzwischen lebten dort insgesamt elf Nonnen, also beinahe ein Drittel der weiblichen Gesamtbevölkerung von Sorve: eine bizarre Entwicklung, und einzigartig in der kurzen Inselgeschichte. Delagard sabberte beständig irgendwelche schlüpfrigen Andeutungen, was sich da drunten im Weiberzwinger wohl so alles abspielte. Höchstwahrscheinlich lag er da gar nicht so falsch.
»Ehrwürdige Schwester Halla«, sagte Lawler. »Schwester Mariam, Schwester Thecla…«
Die drei Frauen schauten ihn an, als hätte er etwas Zotiges gesagt. Er zuckte die Achseln und ging weiter.
Das Zentralreservoir lag direkt vor ihm, ein kreisrunder, drei Meter hoher, fünfzig Meter weiter überdeckter Tank aus gelackten Meerbambus-Dauben, die von grell-gelbroten Reifen aus Algenwedeln gefaßt und an der Innenseite mit dem roten Pech versiegelt waren, das man aus den Seegurken gewann. Vom Wasserspeicher ging ein aberwitziges Geflecht von Rohren zu den Vaarghs aus, die direkt dahinter begannen. Die Zisterne war wahrscheinlich das wichtigste Bauwerk in der Siedlung. Erbaut hatten das Reservoir die ersten Menschen, die hierhergekommen waren, vor fünf Generationen, Anfang des 24. Jahrhunderts, als Hydros noch als Strafkolonie diente, und die Zisterne erforderte konstante Wartung und mußte unentwegt geflickt, neu kalfatert und gefaßt werden. Seit mindestens zehn Jahren redete man in der Kolonie davon, daß man das ›Ding‹ durch etwas technisch Eleganteres ersetzen müsse, jedoch war diesbezüglich überhaupt nichts geschehen. Und Lawler zweifelte stark daran, daß dies je der Fall sein werde. Schließlich erfüllte das Ding ja seinen Zweck einigermaßen gut.
In der Nähe des Wasserreservoirs erblickte er diesen Priester, der sich kürzlich auf Hydros eingenistet hatte. ›Father‹ Quillan von der ›Alle Welten umfassenden Kirche‹ kam langsam von der anderen Seite um den Tank herum und ging einer äußerst seltsamen Beschäftigung nach. Alle zehn Schritte etwa blieb der Geistliche stehen, wendete das Gesicht der Zisternenwandung zu, breitete die Arme weit, als wollte er den Behälter zärtlich an die Brust ziehen, und tastete behutsam mit den Fingerspitzen die Wandung ab, hier und dort und da, als suche er nach Lecks.
»Na, hast du Angst, die Mauer bricht zusammen?« rief Lawler ihm zu. Der Mann war ein Außenweltler, ein Neuling. Erst seit knapp einem Jahr auf Hydros, und auf Sorve — kaum ein paar Wochen. »Da brauchst du dir wirklich keine Sorgen zu machen.«
Quillan fuhr herum. Sichtlich verlegen. Er löste die Hände von der Zisterne.
»Hallo, guten Morgen, Dr. Lawler.«
Der Geistliche war ein kräftiger Mann von asketischem Aussehen, mit beginnender Glatze, glattrasiert, und sein Alter konnte durchaus zwischen fünfundvierzig und sechzig liegen. Er war mager, als habe er seine ganze Fleischlichkeit aus sich herausgeschwitzt, sein Gesicht war ein längliches Oval, in dessen Mitte eine kräftige knochige Nase stand. Die tiefliegenden Augen waren von bleichblauer Kälte, und auch die Haut war sehr fahl, fast wie ausgebleicht; allerdings wirkte sich die stete, einzig aus Meeresprodukten zusammengesetzte Diä t der Hydros- Bewohner allmählich aus und verlieh ihm mehr und mehr den seefarbenen dunklen Teint der Alt-Siedler: die Algen keimten sozusagen durch die Haut heraus.
Lawler sagte: »Das Wasserreservoir ist extrem stabil. Glaub mir, Father. Ich lebe schon mein ganzes Leben lang hier, und nicht ein einzigesmal hat es einen Bruch gegeben. Wir könnten es uns nicht leisten, daß so was passiert.«
Quillan lachte verlegen. »Darum ging es mir eigentlich gar nicht. Tatsächlich wollte ich nur seine Kraft umarmen.«
»Verstehe.«
»Ich wollte diese gesamte geballte Stärke fühlen. Erfahren, wie sich gewaltige Stärke unter Kontrolle anfühlt — diese Hektoliter Wasser, die einzig durch den entschlossenen menschlichen Willen gebändigt sind.«
»Ja, und durch Massen von Seebambus und Reifen, Father. Und nicht zu vergessen, durch die Güte Gottes.«
»Ja, das wohl auch«, sagte Quillan.
Ziemlich seltsam, dieses Verhalten. Umarmt den Wassertank, weil er spüren will, wieviel Kraft da drinsteckt. Aber Father Quillan machte immer derart sonderbare Sachen. Der Mann schien von einer Art verzweifelten Hungers erfüllt: einem Verlangen nach Gnade und Erbarmen, nach der Preisgabe an ein Etwas, das größer war als er selber. Die Sehnsucht vielleicht gar, glauben zu können. Lawler berührte es als recht merkwürdig, daß ein Mann, der behauptete, ein Priester zu sein, dermaßen des göttlichen Geistes ermangelte.
Er sagte: »Mein Ur-Urgroßvater hat die Zisterne konstruiert, weißt du? Harry Lawler, einer der Gründer der Kolonie. Wie mein Großvater immer zu sagen pflegte, gelang ihm alles gut, was er anpackte. Eine Appendektomie ebenso wie die Navigation eines Schiffes von einer Insel zur anderen, wie halt auch der Entwurf eines Wasserreservoirs.« Lawler machte eine Pause. »Er ist hierher deportiert worden wegen Mordes, der alte Harry. Wegen Totschlags, sollte ich wohl korrigieren.«
»Das wußte ich nicht. Also hat deine Familie schon immer auf Sorve gelebt?«
»Von Anfang an. Ich bin hier geboren. Genau gesagt, zirka hundertachtzig Meter von unserem jetzigen Standpunkt entfernt.« Lawler tätschelte zärtlich die Zisternenwand. »Der gute alte Harry. Ohne das da würden wir hier wirklich echte Probleme haben. Du merkst ja, wie trocken das Klima hier ist.«
»Ja, ich merke es allmählich«, antwortete der Priester. »Regnet es denn hier nie?«
»Ach doch, zu bestimmten Zeiten im Jahr schon. Aber jetzt ist eben nicht der rechte Zeitpunkt. Mit Regen darfst du für die nächsten neun, zehn Monate hier nicht rechnen. Deshalb haben wir uns ja so bemüht, unsere Zisternen so zu konstruieren, daß keine Leckagen auftreten.«
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