Auf Sorve war Wasser eben knapp; jedenfalls das Wasser, das für die Bedürfnisse der Humanbevölkerung geeignet war. Fast das ganze Jahr hindurch schwamm die Insel durch Zonen ohne Regenfälle in der unerbittlichen Gezeitendrift. Aber die schwimmenden Inseln auf Hydros, die mehr oder weniger frei durch die Gewässer trieben, wurden nichtsdestoweniger manchmal jahrzehntelang in klar abgegrenzten planetograpischen Längenzonen durch starke Meeresströmungen von der Kraft gewaltiger Flüsse festgehalten. Jede Insel machte eine jährliche klarbestimmte Migration zwischen den Polen durch, hin und zurück; um die Pole kreisten Wirbelströmungen heftiger bewegten Wassers, von denen die herantreibenden Inseln erfaßt, gedreht und in gegenläufige Bewegung in Richtung auf das andere Ende des Planeten katapultiert wurden. Trotz dieser alljährlichen Nord-Süd-Wanderung durch sämtliche Breitenzonen blieb die ost-westliche Fluktuation wegen der übermächtigen Meeresströmungen minimal. So war etwa Sorve, soweit Lawler sich zurückzuerinnern vermochte, bei seiner unentwegten Weltwanderung zwischen Norden und Süden stets zwischen vierzig und sechzig Grad westlicher Breite geblieben. Dies schien in fast allen Breiten ein Trockengürtel zu sein. Regen kam nur unregelmäßig, außer wenn die Insel durch die polnahen Zonen trieb, wo dann heftige Niederschläge die Regel waren.
Für die einheimischen Kiemlinge, die Gillies, bedeuteten die wiederkehrenden Trockenzeiten kein Problem; ihr Metabolismus war sowieso auf den Konsum von Meerwasser hin angelegt. Doch für die Menschen komplizierte sich das Leben dadurch enorm. Die Trinkwasserrationierung gehörte auf Sorve zur Alltagsroutine. Zwei Jahre hatte es gegeben — einmal, als Lawler erst zwölf war, und in seinem zwanzigsten Jahr, diesem schwarzen Jahr, in dem sein Vater starb —, in denen abnorm üppige Regen wochenlang ununterbrochen über der Insel niedergegangen waren, so daß die Zisternen überflossen und man die Wasserrationierung aufgab. Während der ersten Woche etwa war dies beide Male als interessantes Novum empfunden worden, aber dann wurden die endlosen Regen, die grauverhangenen Tage und der widerwärtige Modergeruch den Menschen lästig. Alles in allem zog Lawler aber die Dürreperioden vor; an sie war er jedenfalls besser gewöhnt.
Father Quillan sagte: »Ich bin fasziniert von diesem Ort. Es ist die seltsamste Welt, die ich je gesehen habe.«
»Wahrscheinlich könnte ich das auch sagen.«
»Bist du viel herumgereist? Auf Hydros, meine ich.«
»Ich war einmal auf Thibeire Island«, antwortete Lawler. »Die kam damals ganz nahe an uns heran, trieb dicht drunten an den Hafen heran, und ein paar von uns ruderten mit einem Flechtboot hinüber und blieben dort den ganzen Tag lang. Ich war damals fünfzehn. Das einzige Mal, daß ich in der Fremde war.« Er bedachte den Priester mit einem forschenden Blick. »Aber du, du bist ein richtiger weitgereister Mann, sagen die Leute. Und sie sagen, du hast zu deiner Zeit ein ziemliches Stück der Galaxie kennengelernt.«
»Ein wenig nur«, sagte Father Quillan. »Nicht besonders viel. Ich war auf sieben Welten. Nein, acht, wenn ich die hier mitrechne.«
»Das macht sieben mehr, als ich je sehen werde.«
»Aber jetzt bin ich am Ende angekommen.«
»Ja«,sagte Lawler, »das trifft sicher zu.« Außerweltler, die nach Hydros kamen, um hier zu leben, waren Lawler unbegreiflich. Wieso taten sie das? Sich auf Sunrise, gleich nebenan, also bloß so etwa zwölf Millionen Kilometer weit weg, in eine Abwurfkapsel stecken zu lassen, um dann auf einen Landeorbit hinausgeschnippt zu werden, der einen schließlich im Meer in der Nähe einer Treibinsel absetzen sollte… und dies im vollen Bewußtsein, daß du Hydros nie -nie-wieder verlassen kannst? Da die Gillies sich der Errichtung eines Raumflughafens an irgendeinem Punkt von Hydros strikt widersetzten, bedeutete die Reise hierher unweigerlich den Endpunkt… und jeder da draußen wußte dies. Und dennoch kamen sie immer noch — nicht gerade in großer Zahl, aber sie träufelten stetig herein, entschlossen, bis zu ihrem Ende als Gestrandete auf einem uferlosen Meer zu leben, einer Welt ohne Bäume und Blumen, ohne Vögel, Insekten und grünes Gras, ohne fellbedeckte und ohne Huftiere… ohne Muße und Annehmlichkeit, ohne eine der Segnungen der modernen Technologie, schiffbrüchig in den nie endenden Gezeiten, auf Inseln aus Rutengeflecht zwischen den Polen einer Welt unablässig hin und her treibend, die nur für Geschöpfe mit Finnen und Flossen geeignet war.
Lawler hatte keine Ahnung, warum Quillan nach Hydros hatte kommen wollen; doch so etwas fragte man hier andere Menschen grundsätzlich nicht. Vielleicht war es wegen irgendeiner Bußübung, als eine Strafe. Als ein Akt der Selbstverleugnung. Ganz gewiß nicht, um hier ein kirchliches Amt auszuüben. Die ›Alle Welten umfassende Kirche‹ war eine post-vatikanische katholische Splittersekte, und soweit Lawler wußte, besaß sie auf Hydros nirgendwo Anhänger. Auch sah es nicht so aus, als wäre Father Quillan als Missionar gekommen. Seit seinem Eintreffen auf Sorve hatte er keinen Versuch unternommen, Proselyten zu gewinnen, was nur vernünftig war, denn Religionen hatten bei den Insulanern noch nie größeres Interesse erregt. »Gott ist weit weg von uns auf Sorve«, pflegte Lawlers Vater oft zu sagen.
Quillan schaute eine Weile ziemlich düster drein, als wäge er noch einmal die realen Aspekte seines lebenslänglichen Gestrandetseins auf Hydros ab. Dann sagte er: »Stört es euch nicht, daß ihr immer hier an dem einen Ort seid? Werdet ihr denn nie kribbelig? Neugierig, wie es auf den anderen Inseln ist?«
»Ach, eigentlich kaum«, antwortete Lawler. »Thibeire damals war ziemlich genau wie Sorve, fand ich. Der gleiche allgemeine Grundriß, der gleiche allgemeine emotionale Eindruck. Nur gab es dort keinen, den ich gekannt hätte. Und wenn schon ein Ort wie der andere ist, warum soll man dann nicht an dem vertrauten Ort bleiben, unter den Leuten, mit denen man schon immer zusammengelebt hat?« Er kniff die Augen zusammen. »Nein, Gedanken mach ich mir über die anderen Welten. Die mit trocknem Land. Die echten richtig festen, soliden Planeten. Ich frage mich, wie das sein muß, wenn man Tage und Tage hindurch einfach so gehen kann und nie offenes Wasser zu sehen bekommt, auf einem festen stabilen Boden gehen, immer, nicht bloß auf einer Insel, sondern auf einem ganzen Kontinent, wo man nicht überall von dem Platz, an dem du lebst, das Ende sieht, sondern eine enorme Landmasse mit Städten drauf und Bergen und Flüssen. Das sind leere Begriffshülsen für mich. Städte. Berge. Ich wüßte so gern, wie Bäume aussehen, was Vögel sind und Pflanzen, die Blüten tragen. Begreifst du? Ich frage mich, wie die ERDE war. Manchmal träume ich, es gibt sie noch, und ich bin wirklich dort, auf ihr, atme ihre Luft und spüre sie unter meinen Sohlen. Sie verfängt sich unter meinen Fingernägeln… Auf Hydros gibt es nirgendwo eine Bodenkrume, ist dir das bewußt? Da ist nur der Sand am Grund der See.«
Lawler blickte hastig zu den Händen des Geistlichen, als könne der noch die schwarze Erde von Sunrise unter den Nägeln haben. Quillans Augen folgten seinem Blick, und er lächelte schweigend.
Dann sagte Lawler: »Ich hab letzte Woche im Gemeindehaus zufällig mitgehört, wie du mit Delagard gesprochen hast: Über den Planeten, auf dem du gelebt hast, ehe du hierher kamst, und ich kann mich noch genau an jedes Wort erinnern, das du gesagt hast. Daß die Erde dort endlos weit erscheint, zuerst Weideland, dann Wald und dann Berge, und hinter den Bergen, auf der anderen Seite, eine Wüste. Und ich saß da und versuchte die ganze Zeit, mir vorzustellen, wie all dies wirklich aussieht. Aber das werde ich natürlich nie wissen. Von hier können wir eben nicht weg und zu anderen Welten, nicht wahr? Für uns brauchte es sie also eigentlich gar nicht zu geben. Und da jeder Fleck auf Hydros genauso ist wie jeder andere, neige ich nicht sehr zu wilden Streifzügen.«
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