»Sie wollten ganz bestimmt nicht da drinbleiben. Sondern sie müssen sich dort verfangen haben. Intelligente taucherfahrene Meerestiere bleiben nicht einfach so in einem Netz sitzen, das aus vierhundert Metern im Eiltempo raufgeholt wird.«
Delagard antwortete mit blitzenden Augen: »Also, sie sind aber dringeblieben. Warum, das weiß ich auch nicht.« Dann erlosch der bossige Blitzeblick, und er bedachte Lawler erneut mit der Miene eines, der um ein Wunder bittet, die Augäpfel flehentlich nach oben verzückt. Hoffte er etwa noch immer? Sogar jetzt noch? »Hast du wirklich nichts, gar nichts tun können, um sie zu retten, Lawler? Überhaupt gar nichts?«
»Na klar, hätte es da was gegeben. Alles mögliche hätte ich machen können. Aber anscheinend war ich wohl grad nicht in der rechten Stimmung dafür.«
»Tut mir leid. Das war blöd von mir.« Delagard sah fast zerknirscht drein. Heiser sagte er: »Ich weiß, du hast dein Bestes versucht. Hör mal, gibt es irgendwas, das ich dir in dein Vaargh schicken lassen kann, als Honorar? Vielleicht eine Kiste Beerentang-Brandy, oder ein paar gute Körbe, oder eine Wochenration Banger-Steaks…«
»Den Brandy«, sagte Lawler. »Das ist noch die beste Idee, dann kann ich mich wenigstens richtig besaufen und zu vergessen versuchen, was ich hier heut früh gesehen hab.« Er schloß die Augen. »Die Gillies haben Kenntnis davon, daß du drei komatöse Taucher die ganze Nacht lang hier versteckt hast.«
»Wirklich? Woher willst du das so sicher wissen?«
»Weil ich in ein paar von ihnen reingelaufen bin, vorhin, als ich an der Bucht herumgewandert bin, und sie haben mir fast den Kopf abgebissen. Sie schäumen vor Wut. Hast du denn nicht gesehen, wie sie mich vertrieben haben?« Delagards Gesicht war auf einmal aschgrau; er schüttelte den Kopf. »Also, sie haben mich verscheucht. Und ich hatte nichts weiter getan, als daß ich bestenfalls ihrem Kraftwerk etwas zu nahe gekommen bin. Nur, früher haben sie durch nichts zu verstehen gegeben, daß uns dort der Zutritt verboten ist. Also muß es wegen der Taucher gewesen sein.«
»Meinst du wirklich?«
»Was sonst?«
»Setz dich erst mal hin. Doc, wir müssen miteinander reden.«
»Nicht jetzt.«
»Also, hör doch erst mal zu!«
»Ich will aber nicht, klar? Ich kann mich hier nicht lä nger aufhalten. Ich hab was anderes zu tun. Wahrscheinlich warten im Vaargh schon die Patienten auf mich. Verdammt noch mal, ich hab noch nicht einmal gefrühstückt.«
»Doc, warte doch ’nen Moment. Bitte!«
Delagard griff nach ihm, doch Lawler schüttelte die Hand ab. Auf einmal erregte ihm die heiße dumpfige Luft in dem Schuppen und der süßliche Geruch der toten Leiber Brechreiz. Sein Kopf begann sich zu drehen. Auch Ärzte haben ihre Grenzen. Er machte einen Bogen um den gaffenden Delagard und wollte ins Freie . An der Tür schwankte er mit geschlossenen Augen vor und zurück, holte tief Luft und lauschte dem Grollen seines leeren Magens und dem Knarren der Landebrücke unter seinen Füßen, bis der plötzliche Schwindelanfall wieder von ihm wich.
Er spuckte aus. Ein grüner, trockener Klumpen. Er starrte den Auswurf böse an. Himmel, was für ein Tagesbeginn!
* * *
Inzwischen war es Tag geworden. Ganz und gar. Wegen der unmittelbaren Äquatornähe von Sorve stieg die Sonne am Morgen rasch über den Horizont und versank bei Einbruch der Nacht fast genauso plötzlich wieder. Und an diesem Morgen war der Himmel noch dazu ganz besonders prächtig. Helle rosa Bänder waren mit rotgelben und türkisfarbenen gemischt und über das Firmament ausgegossen. Der Himmel da droben sah fast so bunt aus wie Delagards Sarong, dachte Lawler. Kaum war er vor dem Schuppen und in der frischen Luft, hatte er sich rasch wieder gefangen, spürte nun aber, wie eine erneute Woge von Zorn in ihm aufschwoll, die üble Resonanzen in seinen Eingeweiden auslöste, und er senkte den Blick auf seine Füße und atmete erneut tief durch. Er mußte zusehen, daß er heimkam, das war es, was er jetzt brauchte. Sein Haus und ein Frühstück — und vielleicht ein oder zwei Tröpfchen von seiner Taubkraut-Tinktur. Und danach die tägliche Tretmühle.
Er machte sich hangaufwärts auf den Weg.
Weiter im Inselinnern waren bereits Leute auf und unterwegs.
Niemand schlief hier noch lang nach der Morgendämmerung. Die Nacht war zum Schlafen da, am Tag wurde gearbeitet. Auf dem Weg zu seinem Vaargh und zu dem morgendlichen Schub echt Leidender und chronischer Wehleidiger, der sich bei ihm einfinden würde, stieß Lawler auf einen signifikanten Prozentsatz der menschlichen Inselpopulation und grüßte jeden. Hier am Schmalende des Eilands, wo die Menschen hausten, hockte man sich sozusagen die ganze Zeit gegenseitig im Nacken.
Die meisten Leute, denen er zunickte, während er die sanfte Steigung des festen hellgelben Flechtpfades hinaufwanderte, waren Menschen, die er seit Jahrzehnten kannte. Fast die ganze Humanpopulation auf Sorve war auf Hydros geboren, und davon wieder war über die Hälfte direkt hier auf der Insel zur Welt gekommen. Genau wie auch Lawler selbst. Und die meisten hatten sich nicht ausdrücklich dafür entschieden, ihr gesamtes Leben auf diesem fremden Wasserball zu verbringen, taten es aber dennoch, weil ihnen keine andere Wahl blieb. Die Lebenslotterie hatte ihnen schlicht bei ihrer Geburt das Ticket für Hydros ausgespielt, und sobald man erst mal auf Hydros war, konnte man nie wieder von hier fort, denn es gab keine Raumflughäfen und man konnte den Planeten nur auf einem Weg verlassen: durch den Tod. Die Geburt hier bedeutete die Verurteilung zu ›Lebenslänglich‹. Dies war seltsam in einer Galaxie voller bewohnbarer und bewohnter Welten — daß einem keine Chance gegeben wurde, selbst zu wählen, wo man gern leben wollte… Aber dann gab es da noch die anderen, die von draußen in Landekapseln hereingeplatzt kamen, und die hatten die Wahl gehabt und hätten überallhin gehen können im Universum und hatten sich trotzdem für diesen Planeten entschieden, obwohl sie wußten, daß es für sie kein Zurück gab. Das war sogar noch seltsamer.
Dag Tharp, der die Radiostation betrieb, nebenbei als Zahntechniker arbeitete und Lawler gelegentlich als Anästhesist assistierte, kam als erster vorbei. Er war ein schmächtiger, kantiger Typ, rotgesichtig, von zerbrechlichem Aussehen, mit einem dürren Hals und einer großen scharfgebogenen Schnabelnase, die zwischen kleinen Augen und praktisch fleischlosen Lippen hervorragte. Weiter hinten tauchte Sweyner auf dem Knüppelpfad auf, der Werkzeugmacher und Glasbläser. Ein kleiner alter Knabe, verknöchert und verwittert. Und hinter ihm kam sein verknöchertes, verwittertes Weibchen, das aussah, als wäre sie seine Zwillings-Schwester. Unter den jüngeren Siedlern gab es einige, die unterstellten, daß sie das wirklich sei, doch Lawler wußte es besser. Sweyners Frau war seine eigene Großkusine, und Sweyner war mit ihm — oder ihr — in keiner Weise verwandt. Die Sweyners, ähnlich wie Tharp, waren beide gebürtige Hydrosianer, ja sogar Sorvesen. Es war zwar ein wenig regelwidrig endogam, eine Frau von der eignen Insel zu ehelichen, wie Sweyner das getan hatte… Wahrscheinlich war das die Ursache — neben der physischen Ähnlichkeit der beiden — für derartigen Tratsch.
Mittlerweile war Lawler der Hauptterrasse, die das aufragende Rückgrat der Insel bildete, nahegekommen. Eine breite hölzerne Rampe führte dort hinauf. Auf Sorve gab es keine Treppen: Die zum Gehen wenig tauglichen Stummelbeine der Gillies eigneten sich auch nicht fürs Treppensteigen. Lawler stieg die Rampe rasch hinan, dann trat er auf die Terrasse, ein flaches Terrain aus steifen, festen, dichtverflochtenen gelben Fasern des Seebambus. Die Terrasse war fünfzig Meter breit, lackversiegelt und laminiert mit Seppeltan-Extrakt und ruhte auf einem Gerüst aus schweren Schwerzkelp-Balken. Die lange schmale Hauptstraße der Insel verlief darüber. Eine Linkswendung führte zu dem von den Gillies bewohnten Bereich der Insel, nach rechts ging es zur Barackensiedlung der Menschen. Lawler wandte sich nach rechts.
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