»Und ich habe gedacht, du bist jetzt schon ein reicher Mann. Wieviel mehr brauchst du denn noch?«
»Du begreifst es einfach nicht, wie?«
»Wahrscheinlich ist es so«, sagte Lawler. »Aber ich bin ja auch nur Arzt und kein Geschäftsmann. Also, wo ist jetzt dein Patient?«
»Nicht so hastig, Doc. Ich bring dich so rasch hin, wie es geht.« Delagard fuhr mit einer raschen Geste der Hand seewärts in die Luft. »Siehst du das da drunten, an Jollys Pier? Das kleine Fischerboot? Da müssen wir hin.«
Jollys Pier ragte wie ein Finger aus verfaulten Kelp-Knüppeln etwa dreißig Meter über die Uferbefestigung in die Lagune hinaus. Ganz am Ende des Werftgeländes. Ausgebleicht, verquollen, brüchig von den Tiden und zerfressen von Bohrwürmern und Schabern, war die Pier noch immer mehr oder weniger intakt, ein ehrwürdiges Relikt einer verschwundenen Ära. Ein verrückter alter Seemann, der schon unendlich lange tot war, hatte das Ding gebaut; ein verwittertes Wrack von Mann, ein sonderbarer Kauz, der behauptet hatte, allein die ganze Welt umsegelt zu haben — sogar bis in das Leere Meer, wohin niemand, der noch einen Funken Verstand hatte, jemals fahren würde, ja sogar bis zum Rand der WASSER selbst wollte er vorgedrungen sein, jener fernen verbotenen Insel, dem Großen Geheimnis des Planeten, der sic h offenbar nicht einmal die Gillies zu nähern wagten. Lawler erinnerte sich noch recht gut, wie er als Junge hier draußen am Ende der Pier gesessen und dem Alten zugehört hatte, wenn der seine wilden, aufregenden heldenhaften Geschichten von seinen wundersamen, aber unwahrscheinlichen Abenteuer spann. Das war in einer Zeit gewesen, ehe Delagard hier seine Bootswerft gebaut hatte. Aber aus irgendeinem Grund hatte Delagard den alten verrotteten Landesteg erhalten. Vielleicht hatte auch er die Geschichten des alten Mannes gern gehört, früher einmal.
Eins der Fischerboote Delagards, ein Coracle aus Rutengeflecht, mit Haut bedeckt, war an der Pier vertäut und tanzte in der Dünung. Nahe dabei stand ein Schuppen, der so alt aussah, daß er gut Jollys Behausung gewesen sein konnte; das war aber nicht der Fall. Delagard blieb davor stehen, blickte grimmig zu Lawler auf und sagte mit leiser, bedrohlich knurrender Stimme: »Dir ist doch klar, Doc, daß alles, was du da drin siehst, absolut vertraulich bleiben muß!«
»Verschon mich mit deinem Gesülze, Nid.«
»Ich mein es ernst. Du mußt mir versprechen, daß du den Mund hältst. Wenn das bekannt wird, bin nicht bloß ich am Arsch. Es könnte uns alle umbringen.«
»Wenn du mir nicht traust, such dir ’nen anderen Arzt. Das dürfte dir in dieser Gegend allerdings ziemlich schwerfallen.«
Delagard blickte ihn verdrießlich an; dann brachte er ein frostiges Lächeln zustande. »Also gut. Wie du meinst. Aber jetzt komm erst mal mit rein.«
Er stieß die Schuppentür auf. Im Innern war es völlig finster und ungewöhnlich feucht. Lawler roch den scharfen Salzduft der See, so stark konzentriert, als hätte Delagard ihn hier auf Flaschen gefüllt, daneben noch einen anderen Geruch, säuerlich, stechend und unangenehm, aber er konnte diesen Geruch nicht identifizieren. Er vernahm schwache ächzende Laute, gedehnte, keuchende Laute wie das Seufzen der Verdammten. Delagard tastete dicht bei der Tür herum, es gab ein raschelndes Geräusch, und nach einer Weile riß er ein Streichholz an, und Lawler sah das Bündel getrockneten Seetang, das an einem Ende zugeschnürt war und eine Fackel ergab, die jetzt zu brennen begann. Ein trüber rauchiger Lichtschein ergoß sich in den Schuppen wie ein orangegelber Ölfleck.
»Da, da sind sie«, sagte Delagard.
In der Schuppenmitte befand sich eine grobschlächtige rechteckige Vorratskiste aus Rutenflechtwerk, mit Pech kalfatert, etwa drei Meter lang und zwei breit und fast bis an den Rand mit Meerwasser gefüllt. Lawler trat heran und blickte in den Tank. In diesem lagen, dicht zusammengedrückt wie Sardinen in einer Büchse, drei der schlanken Meeressäuger, die ›Taucher‹ genannt wurden. Ihre kräftigen Flossen waren in unmöglichen Stellungen verzerrt, die Köpfe ragten steif aus dem Wasser und waren schmerzhaft und unnatürlich nach rückwärts verdreht. Der fremdartige beißende Geruch, den er beim Eintreten wahrgenommen hatte, ging von ihnen aus. Inzwischen empfand er ihn aber nicht mehr als so abstoßend. Die erschreckenden stöhnenden Grunzlaute kamen von dem Taucher links. Sie verrieten schie re Agonie.
»Oh, verdammt!« sagte Lawler leise. Jetzt glaubte er zu begreifen, warum die Gillies ihm mit solch wilder Wut begegnet waren. Ihre brennenden Blicke, das drohende Schnarren. Zorn schoß ihm in den Kopf, und seine Wange zuckte nervös. »Verdammt!« Er drehte sich zu dem Reeder um und blickte ihn verärgert, angewidert und beinahe haßerfüllt an. »Delagard, was hast du jetzt wieder angerichtet?«
»Hör mal, wenn du denkst, ich hab dich geholt, bloß damit du mich abkanzeln kannst…«
Lawler schüttelte entschieden den Kopf. »Was hast du getan, Mann?« Er schaute Delagard fest in die Augen, die jetzt dem Blick zuckend auswichen. »Was hast du getan, verdammt noch mal?«
Es handelte sich um Nitrogenabsorption; daran bestanden für Lawler kaum Zweifel. Die schrecklichen Verkrampfungen der drei Taucher war ein sicheres Symptom dafür. Delagard hatte sie bestimmt weit draußen im offenen Meer in großer Tiefe für irgendeine Arbeit eingesetzt und sie so lange drunten gelassen, daß ihre Gelenke, Muskeln und Fettgewebe sich mit riesigen Mengen von Stickstoff anreichern konnten; und dann waren sie — so unglaublich das erscheinen mochte — offenbar ohne Rücksicht auf die nötige Dekompressionsphase wieder an die Oberfläche geholt worden. Unter dem schwindenden Wasserdruck hatte sich der Stickstoff ausgedehnt und war in Gestalt von tödlichen Bläschen in den Blutkreislauf und die Gelenke eingedrungen.
»Sobald wir merkten, daß es Ärger gibt, haben wir sie hierher geschafft«, sagte Delagard. »Wir haben uns gedacht, du kannst vielleicht was für sie tun. Und ich meinte, wir lassen sie am besten im Wasser, sie müssen unter Wasser bleiben, also haben wir den Behälter da gefüllt und…«
»Sei still!« sagte Lawler.
»Aber ich will dir doch bloß sagen, daß wir keine Mühe gescheut…«
»Halt den Mund! Bitte, halt einfach die Klappe, ja!?«
Lawler streifte den Seelattich-Sarong ab und kletterte in das Becken. Als er sich neben die Taucher zwängte, schwappte Wasser über den Rand. Leider konnte er nicht viel für sie tun. Der in der Mitte war bereits tot. Lawler legte ihm die Hände auf die muskulösen Schultern und erkannte, daß der Rigor mortis bereits einzusetzen begann. Die anderen zwei waren mehr oder weniger noch lebendig — was die Sache für sie nur um so schlimmer machte, denn sie mußten scheußliche Schmerzen haben, sofern sie überhaupt noch bei Bewußtsein waren. Die im Normalzustand glatten torpedoförmigen Körper von etwas mehr als Mannslänge waren von bizarren Buckeln und Knoten bedeckt, jeder Muskel gegen seinen Widerpart gespannt, die golden schimmernde Haut, sonst glatt und seidig, fühlte sich rauh an, voller kleiner Knötchen. Die bernsteingoldnen Augen blickten trübe. Die vorstrebenden Unterkiefer und Kehlsäcke hingen schlaff. Grauer Schleim bedeckte die Schnauzen. Der linke Taucher stöhnte noch immer unablässig alle halbe Minute, und der Laut klang, als risse er sich entsetzlich irgendwie aus den Tiefen seiner Eingeweide los.
»Kannst du sie wieder hinkriegen, irgendwie?« fragte Delagard. »Kannst du was machen? Irgendwas? Ich weiß, du kannst es, Doc. Du kannst es.« Delagards Stimme klang jetzt drängend und schmeichlerisch, wie er sie nie zuvor gehört hatte. Er war es zwar gewohnt, daß Kranke ihm gottähnliche Kräfte unterstellten und von ihrem Arzt ein Wunder verlangten. Doch weshalb bekümmerte das Schicksal dieser Taucher Delagard dermaßen? Was war hier wirklich im Gange? Ganz gewiß doch empfand Delagard keine Schuldgefühle. Doch nicht Delagard!
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