Inzwischen hatte Sils Gefolge die Vorhalle passiert. Dort war ein großes Wasserbecken aufgestellt, in dem jeder Besucher seine Hände und Füße von Staub, den Gesetzen der Höflichkeit folgend, reinigen mußte.
Der Dug-gur stellte dem Himmelssohn seine drei Söhne vor.
Ihm war anzumerken, daß er sehr stolz auf seine Kinder war, die bereits alle zur Tempelschule gingen und später einmal hohe Ämter einnehmen sollten.
„Hast du keine Töchter?“ fragte Sil teilnahmsvoll. Auf Heloid wäre darüber ein jeder traurig gewesen. Es gehörte einfach zur Harmonie der heloidischen Wohngemeinschaften, daß unter ihnen Jungen und Mädchen in gleicher Anzahl aufwuchsen. Seit langem erreichte man das dort mit den Mitteln der Geburtenbeeinflussung.
Sil wunderte sich auch darüber, daß der Dug-gur nicht seine Lebensgefährtin vorstellte. Ob sie wohl gar schon gestorben ist, fragte er sich im stillen? Unwillkürlich sagte er daher feierlich: „Gruß der Mutter deiner Kinder! Dank ihr, sie ist das Leben!“
Der Dug-gur stand einige Augenblicke still und lauschte dem eigenartig achtungsvollen Klang dieser Worte des Himmelssohnes nach. Dann blickte er sich im Kreise um, aber niemand schien diese Worte verstanden zu haben.
Schnell sprach er weiter und erklärte seinem hohen Besuch den Zweck aller Räume seines Hauses. Er eilte von Tür zu Tür und schwenkte die Holztafeln zur Seite. Neben der Vorhalle mit dem Wasserbecken gab es einen Empfangsraum, dick mit Matten, Fellen und Kissen ausgelegt. Daran reihten sich Küche, Wohn- und Schlafräume. Eine steinerne Treppe führte hinauf zum Rundgang des oberen Stockwerkes, der von einer hölzernen Balustrade eingefaßt war. Von diesem Rundgang aus zweigten die Räume der Söhne und die Gastzimmer ab.
„Meine vier Töchter und die Mutter der Kinder wohnen zusammen mit den Sklaven in einem Nachbargebäude bei den Eseln, Ochsen und Ziegen“, sagte er schließlich nebenher.
Jetzt war es Sil, der einige Augenblicke regungslos stand.
Frau, Töchter und Sklaven wohnten bei den Tieren im Stall, obwohl in diesem Lande als oberste Gottheit die Mutter der Erde, der Fruchtbarkeit, des Lebens verehrt wurde. Endlich sagte Sil mühsam beherrscht: „Deine Frau und deine Töchter sollten ebenso wie du und deine drei Söhne in diesem Haus wohnen. Sie zählen doch zu deiner Familie und nicht zu dem Vieh. — Den Sklaven solltest du die Freiheit geben. Sie sehnen sich in ihre Heimat zurück.“
Auf den Gesichtern der Umstehenden malte sich großes Erstaunen.
Manche sahen verlegen und betreten drein. Sil fing einen unwilligen Blick Ia-du-lins auf. Der Dug-gur war tief betroffen. Den Sklaven die Freiheit zu geben, das war unmöglich. Wer sollte all die Arbeiten im Haus verrichten. Woran sollte man seinen Reichtum und seine Stellung erkennen können.
Schnell klatschte er laut und heftig in die Hände. Die Sklaven stürzten herbei, und der Dug-gur befahl ihnen, sofort zwei der Räume für seine Frau und seine Töchter herzurichten.
Diese ungewöhnliche Forderung des Himmelssohnes sprach sich schnell in der Stadt herum. Sowohl die Lu-guls, die großen Leute, waren darüber aufgeregt als auch die Sags, die Ur-dus und die Re-schus, wie man die verschiedenen Sklaven zu nennen pflegte. In fast allen Beamtenhäusern zogen die Töchter und Frauen von den Ställen in die Wohnhäuser um, denn die Lu-guls fürchteten den Zorn der Götter. Aber den Sklaven schenkte niemand die Freiheit. Das konnte nicht der Wille der Götter sein. Viele sprachen mit den Priestern darüber und fanden ihre Ansicht bekräftigt.
Während die Menschenwesen im Hofe des Dug-gurs um ihn herum noch miteinander über die Forderungen des Himmelssohnes flüsterten, ließ Sil seinen Blick entlang der Dachkante des Hauses gleiten. Die Spitzen der Tempelbauten, eingerahmt von den grünen Wipfeln hoher Bäume, und die wuchtigen Stufen der Ziggurat mit ihren mächtigen roten, schwarzen und blaufarbenen Quadern ragten darüber hinaus.
Verglichen mit den himmelragenden Bauten auf Heloid aus tausendfach wandelbarem Kunststoff, den großräumigen Wohnhallen der heloidischen Lebensgemeinschaften und den ausgedehnten und tief in die Planetenrinde eingelassenen unterirdischen Produktionsanlagen waren die Tempelbauten klein, ganz zu schweigen von den ärmlichen Wohnzellen der Menschenwesen, die ohne nennenswerte Einrichtungsgegenstände, ohne gereinigte, sterilisierte und klimatisierte Luft waren. Dennoch, die Monumentalbauten der Tempel und des Palastes zeigten schon interessante Ansätze zu einer noch fernen Kultur und Architektonik der Menschen wesen.
Wo übrigens mochten die verstandbegabten Lebewesen des blauen Planeten ihre Produktionsanlagen haben, fragte sich Sil.
Grußlos und in Gedanken versunken verließ er das Haus des Dug-gurs und durchwanderte die Gassen. Bis jetzt hatte er nur die Wohnhäuser und die Kultstätten, die Tempel, entdecken können.
Immer mehr Neugierige säumten den Weg, den Sil nahm, und die Anzahl derer, die hinter ihm und der Gruppe der Priester einherliefen, wurde von Tag zu Tag größer. Die bunte Vielfalt der Lebensweise der Menschenwesen breitete sich vor Sil aus.
Doch zwischen ihm und den Bewohnern dieser Stadt gab es eine unsichtbare Grenze, die niemand überschritt und die auch er nicht zu durchbrechen vermochte. Immer wieder spürte er, daß sie ihn als Gottheit ansahen.
Oft wünschte sich Sil daher, bei den Sandwanderern und bei den ehemaligen drei Sklaven aus El-Ubaid zu sein, für die er, das spürte er immer wieder ganz deutlich, kein Gott, sondern ein fremdes Wesen aus unbekannter Ferne war. So kam es, daß er jeden zweiten oder dritten Tag zur Felsschlucht im Dürrland flog und zwischen den Herden und den spitzen, runden Lederzelten des Lagers umherging. Abends, bevor er abflog, fanden sich in gewohnter Weise die Männer und Frauen unter dem Flügelring ein, und Sil lauschte dem immer wiederkehrenden Gespräch über die Herden, die Weiden, das Wasser, die Nahrung und die Trockenheit.
Eines Tages, als Sil nach einem Flug zur Landebasis am Meer der toten Wasser und zur Felsschlucht im Dürrland wieder in E-rech auf dem großen halbrunden Tempelplatz landete, entstiegen dem Ringflügler die drei ehemaligen Sklaven aus El-Ubaid. Sie und Ia-du-lin begleiteten Sil seitdem ständig. Die Priesterschar mußte immer häufiger zurückbleiben, denn Sil unternahm nun oft Flüge in die Umgebung E-rechs.
An einem Vormittag wollte Sil aus der Stadt hinausfliegen, um den Ackerbau der Menschenwesen kennenzulernen.
Ackerbau gab es auf Heloid schon lange nicht mehr, denn dort wurden die Nahrungsmittel künstlich, meist mit Hilfe der Fotosynthese, erzeugt.
Das Flugzeug stand wie immer im Hof des Nan-nar-Tempels, der auch diesmal verwaist und ohne jegliches Leben dalag. Sil ließ den fliegenden Ring aufsteigen; da aber zeigten ihm die Kontrollgeräte Störungen im Energiefeld des Antriebssystems an und zwangen ihn, sofort wieder zu landen. Er setzte auf dem benachbarten Hof des Marduk-Tempels, des Gewittergottes, auf.
Wie staunte Sil, als er hier ein geschäftiges Treiben sah. Eine Flucht von Räumen umsäumte das weite Viereck des Tempelhofes, und viele Menschen gingen hier ein und aus.
„Heute ist Markttag“, erklärte Ia-du-lin. Schon oft hatte Sil an manchen Tagen viele Menschen in den anderen Tempelhöfen beim Überfliegen der Stadt gesehen. Aber immer hatte er geglaubt, sie seien gekommen, um die Götter der Stadt zu ehren. Aber jetzt erkannte er, daß sie Lasten hin und her trugen, lärmten und hasteten. Der wasserspendende Brunnen war dicht umlagert, und aus den mit Erdpech abgedichteten Trögen soffen die Esel, mit denen Bauern von den Feldern und aus den Gärten Früchte und Gemüse herbeigeschafft hatten. Die Ziegeltische mit den tiefen Opferkerben trugen Obst, hoch aufgetürmt. Überall am Boden lagen auf Strohmatten die verschiedensten Waren zum Tausch ausgebreitet.
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