Sil beobachtete aufmerksam und wachen Sinnes alle Vorgänge um sich herum. Seine Absicht, die Menschenwesen davor zu bewahren, sich gegenseitig zu vernichten, schien zu gelingen. En-mer-kar hatte noch in der Nacht mit sehr viel Aufwand und Tatkraft alle Vorbereitungen getroffen, um die „Botschaft der Götter“ in die Tat umzusetzen. Wenn der Herrscher weiter so darauf bedacht war, das Leben seines Volkes zu schonen, würde Sil vielleicht auch wieder vergessen können, daß En-mer-kar ihren Beistand zum Töten gefordert hatte. Sil war sehr froh gewesen, als sich der Herrscher erbot, seinem Widersacher den Plan der Vernunft selbst zu unterbreiten.
Inzwischen waren sie an ihrem Ziel angelangt. Die Herrscher der beiden benachbarten Städte E-rech und Ur standen sich gegenüber. En-mer-kar neigte leicht den Kopf und sprach: „Kühner und emsiger Gal-Uku-Patesi! Als treuer Diener der Götter, der darauf achtet, daß in den Tempeln täglich geopfert wird und daß die Weisheit und Güte der Götter stets gelobt und gepriesen werden, habe ich die hohe Gunst des Himmels erworben. Die Götter haben sich mir offenbart und die beiden Söhne der I-na-nua, Gemahlin unseres obersten Gottes A-nu, mit einer Botschaft herabgesandt. Sie zürnen uns ernstlich.
Warum auch, kühner und emsiger Gal-Uku-Patesi, hast du dich mit deinem Heer vor die Tore meiner Stadt begeben und dadurch die Götter herausgefordert? Sie wollen, daß kein Streit zwischen uns entstehe. Sie verlangen, daß deine Krieger zurückkehren und alle Waffen eingesammelt werden. Die Männer sollen Arbeitsgeräte ergreifen, um den Reichtum unseres Landes zu mehren. Herrscher im Zweistromland soll sein, wer die geringste Not in seiner Stadt hat und in wessen Tempeln I-na-nua wohnt. I-na-nua aber wohnt in E-rech, deren Menschen ihr zu Ehren einen neuen Tempel erbauen. Wenn du den Willen der Götter nicht erfüllst, werden die Himmelssöhne einen Feuervogel herbeirufen, dessen hundert heiße Zungen jeden Ungehorsam hinwegtilgen. Frage Ia-du-lin. Als mein Tamkare hat er die Himmelssöhne hierhergeführt. Er hat auch den Feuervogel gesehen, riesig groß, und er wird dir berichten können, wie unter seinem brüllenden Atem die Steine lebendig werden und Rauch aus allen Erdspalten hervordringt.“
En-mer-kar neigte abermals leicht seinen Kopf, trat etwas näher und sagte leise: „Und jetzt bitte ich, dich allein sprechen zu dürfen.“
Erstaunt hob der Gal-Uku-Patesi seine Brauen. Die letzten leisen Worte klangen so ganz anders, ließen ihn aufhorchen und Hoffnung schöpfen. Aber lauerte in den Augenwinkeln En-mer-kars nicht Hohn und Spott? Während er noch unschlüssig stand, überlegte er. Verstohlen, musterte der Gal- Uku-Patesi die beiden fremden Gestalten. Wie, wenn sie nicht Söhne des Himmels, nicht Götter sind, dachte er. Da Feuer und Flammen ihnen gehorchten, könnten sie Boten Ner-gals, des Gottes der Unterwelt, sein. Doch selbst wenn er das beweisen könnte, wäre für ihn diesmal hier alles verloren. Er konnte froh sein, daß En-mer-kar ihn noch einmal allein sprechen wollte.
Vielleicht bot sich noch eine Möglichkeit, vor aller Welt nicht als Verlierer, sondern als gehorsamer Diener der Götter nach Ur zurückzukehren.
Der Gal-Uku-Patesi fühlte aller Augen auf sich gerichtet. Er machte eine einladende Geste zu seinem Zelt. Schweigend gingen die beiden Herrscher hinein. Drinnen standen sie sich Augenblicke stumm gegenüber und musterten einander.
Herrscher im Zweistromland soll sein, wer die geringste Not in seiner Stadt hat und in wessen Tempeln I-na-nua wohnt. I- na-nua aber wohnt in E-rech, deren Menschen ihr zu Ehren einen neuen Tempel erbauen, hatte En-mer-kar gesagt. Das allein konnte jedoch nicht die hohe Gunst der Göttin verursacht haben. Aus Berichten seiner Kundschafter wußte er genau, daß dieser Tempel innen und außen noch ganz roh war, daß dort noch keine Priester Dienst taten und daß weder Tempelfeste noch Opferfeste stattgefunden hatten. Es mußte noch etwas anderes sein, was En-mer-kar und E-rech das Wohlwollen der Götter eingetragen hatte, dachte der Gal-Uku-Patesi. Wie konnte er es nur anstellen, damit die beiden Himmelssöhne auch nach Ur kamen, fragte er sich.
Da begann En-mer-kar erneut zu sprechen. „Warum, großer Freund unseres Landes aus Ur, müssen wir unsere Kräfte gegenseitig verzehren, wo es doch genug Feinde um unser Land ringsum gibt?“ Und da er keine Antwort erhielt und wohl auch keine erwartete, fuhr er nach kurzer Pause fort zu reden.
„Deine Tatkraft würde gemeinsamen Zielen besser dienen und sich mit meiner Erfahrung gut ergänzen. Laß das Kriegsrecht bei E-rech. Ich werde noch einige Jahre regieren und dann sterben. Die Götter werden dich statt meiner zum Herrscher erheben“, sagte En-mer-kar jetzt leiser und setzte dann flüsternd hinzu: „Die Hohenpriester unseres Landes wissen, wie man so etwas besorgen muß.“ Laut sprach En-mer-kar weiter: „Damit du siehst, daß ich wirklich dein Freund sein will, es ehrlich meine und zugunsten unseres Landes mit dir gemeinsam herrschen will, sollst du auch erfahren, was die hohe Gunst der I-na-nua hervorgerufen hat. So wisse denn, ich hatte meinen klugen Tamkare Ia-du-lin über das Dürrland und die Gebirge ans Meer gen Abend zum Fürsten der Seefahrer und Kaufleute, zu A-rat, gesandt, um von ihm zur Ausschmückung des Tempels der I-na-nua Lapislazuli und Karneole zu erbeten. Ich werde A-rat hundert Esel, beladen mit gutem Korn, schicken und dafür vor allem Lapislazuli erhalten. Der Hohepriester hatte durch die Wissenschaft der Vision erfahren, daß. I-na-nua eben diesen hübschen blauen, weißgeäderten Stein am meisten, liebt. Großer Sohn der Stadt Ur und unseres Landes, laß auch du zu A-rat Lasttiere entsenden, und schmücke auch du einen Tempel zu Ehren I-na- nuas mit Lapislazuli aus. Du wirst sehr bald bemerken, daß dir die Götter die gleiche hohe Gunst erweisen wie mir und daß die Himmelssöhne im Auftrage I-na-nuas auch in deine Stadt einkehren.“
Der junge Heerführer glaubte zu fühlen, daß es En-mer-kar ehrlich mit ihm meine. Er legte dem Herrscher E-rechs, plötzlich von Dankbarkeit, Erlösung und Erleichterung bewegt, seine sonderbare und furchtbare Waffe, den Schwungstrick mit dem eingeflochtenen scharfkantigen Stein, in die Hände. „Ich danke dir für deine offenen Worte und für deine Freundschaft“, sagte er.
So traten sie beide vor das Zelt und zeigten sich den Soldaten. Allen wurde klar, daß diese beiden Herrscher zweier großer Städte Freunde geworden waren.
Der Gal-Uku-Patesi erteilte seinen Offizieren laut und vernehmlich den Befehl, die Truppen zu sammeln, die Botschaft der Götter vor allen Soldaten zu verlesen, das Lager abzubrechen und dann mit dem Abmarsch zu beginnen.
Sil und Azul beorderten ihren fliegenden Ring herab und kletterten hinein. Ihre Absicht war gelungen, das Töten war verhindert worden. Besonders Sil war mit dem Ergebnis der Begegnung dieser beiden Herrscher sehr zufrieden. Sie stiegen mit dem Ringflügler auf und sahen aus der Höhe eine Zeitlang zu, wie das Belagerungsheer abzog und auch in E-rech die Soldaten im Hof des Palastes ihre Waffen abgaben. Ausführlich schilderte Sil der „Kua“ den Erfolg ihrer „Götter- Mission“. Gohati, Tivia und die anderen beglückwünschten die beiden zum guten Ausgang ihres sonderbaren Unternehmens.
In E-rech grübelten später Ia-du-lin und der Nubanda lange darüber nach, wie En-mer-kar es zuwege gebracht hatte, aus seinem Feind einen Freund zu machen. Der Hohepriester geriet in Zweifel, ob En-mer-kars Zeit wirklich schon abgelaufen sei, und er verbrachte in den folgenden Nächten viel Zeit damit, die Stellung der Sterne von der Höhe der Ziggurat zu prüfen und die Wissenschaft der Vision zu befragen.
Drei Tage, nachdem der Gal-Uku-Patesi mit seinem Belagerungsheer abgezogen war, verlangte der Dam-kar, der oberste Handelsbeamte En-mer-kars, dringend, beim Herrscher vorzusprechen. Warum geht er nicht zum Nubanda, wunderte sich En-mer-kar. Er ließ ihn kommen.
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