Der Dam-kar war sehr aufgeregt. „Hoher Herrscher, unsere Lapislazuli sind in Gefahr!“ rief er, kaum daß er die Schwelle übertreten hatte. „Kaufleute unserer Stadt, die gestern abend von einer Reise zurückkehrten, berichteten von einer großen Eselskarawane, die jenseits des Pu-rat-tus stromaufwärts zieht, um große Mengen Getreides durchs Purrland gen A-rat zu schaffen. Sie werden früher da sein als wir. A-rat wird dann kein Lapislazuli mehr für uns haben oder uns weniger geben, und die Gunst I-na-nuas wird sich von unserer Stadt wenden.
Sie wird dann in Ur wohnen wollen.“
En-mer-kar hob beschwichtigend die Hand: „Ich weiß es“, sagte er. „Hat der Dam-kar vergessen, daß der Gal-Uku-Patesi und ich Freunde geworden sind und daß es daher gleich ist, wo I-na-nua wohnt und wessen Tempel mit Lapislazuli geschmückt ist?“ grollte der Herrscher. Erschrocken wollte sich der Handelsbeamte zurückziehen. Er hatte geglaubt, seinem Herren eine äußerst wichtige Nachricht gebracht zu haben, und nun lief er Gefahr, in Ungnade zu fallen.
„Bleib!“ verlangte En-mer-kar. „Wo befindet sich unser Getreidetransport für A-rat jetzt?“ fragte er.
„Hoher Herr, er ist einen Tag nach dem Ende der Belagerung auf Booten hinweggeschickt worden, den Fluß hinauf. Bei der Stadt Ma-ri nahe der Karawanenstraße soll er dann auf Esel umgeladen werden. Die Boote aber haben gegen den Strom und gegen den Wind zu kämpfen. Die Esel des Gal-Uku-Patesi werden sie überholen, wenn der Wind nicht bald umschlägt.
Herr, du befahlst, das Getreide so zu transportieren!“ erinnerte der Dam-kar, um sich vor Zorn zu schützen.
„Es ist gut“, sagte En-mer-kar. „Ich danke dir für die Nachricht. Wenn die Boote langsam vorankommen, so ist es I- na-nuas Wille. Entferne dich!“
Der Dam-kar stürzte hinaus.
Wenig später verließ En-mer-kar seinen Palast, begleitet von Offizieren und Höflingen. Sein Weg führte zum Tempelbezirk. „En-mer-kar ist der Liebling der Götter, weil er sie oft preisen geht“, sagten die Leute auf den Gassen. Heute begehrte der Herrscher in die Ziggurat, den Tempelturm, Einlaß. Die Priester, die ihm öffneten, waren erstaunt, ihn so zeitig am Vormittag im Tempelbezirk zu sehen. Eilig benachrichtigten sie den Hohenpriester. Als er kam, stiegen die beiden allein zur ersten Stufe des Tempelturmes empor, um dort in aller Abgeschiedenheit die Andacht zu verrichten.
Zu Mittag war En-mer-kar wieder im Palast.
Zu Mittag verließ aber auch ein Priester auf einem Esel die Stadt, ritt den Pu-rat-tu stromauf bis zur Furt, überquertet dort den Fluß und lenkte dann sein Reittier gen Abend in das Dürrland hinein.
Zwei Wochen später traf die Nachricht ein, daß die Boote En- mer-kars gut in Ma-ri angekommen und das Getreide schon auf der Karawanenstraße unterwegs, daß aber die Sendung aus Ur von einem Stamm der Sandwanderer überfallen und ausgeraubt worden sei.
Der Gal-Uku-Patesi, der das Spiel durchschaute und ahnte, wer ihm diesen Verlust trotz aller Freundschaftsbeteuerungen zugefügt hatte, schickte einen seiner Offiziere nach E-rech. Er forderte den Schleuderstrick, das Zeichen ihres Bündnisses, von En-mer-kar zurück.
En-mer-kar schickte den Schleuderstrick und eine Tontafel, auf der geschrieben stand: „Teurer Freund! Zutiefst bedauere ich den Ratschluß der I-na-nua, die mein Vorhaben, das ich dir anvertraute, gelingen läßt, während sie das deinige zunichte machte. Ich leide mit dir, weil die Göttin deine Opfer ablehnt und du deshalb unseren Bund verachtest.“
Heuchler, dachte der Gal-Uku-Patesi wütend, als er diese Worte las. Er beschloß, erneut gegen En-mer-kar in den Kampf um das oberste Kriegsrecht im Zweistromland zu ziehen, sobald Sil und Azul zu A-nu und I-na-nua in den Himmel zurückgekehrt waren.
Sil und Azul studierten in den folgenden Tagen das Leben der Menschenwesen in E-rech. Azul ging in den Tempeln umher, suchte Tontafeln und flog häufig zur „Kua“, um sie entziffern zu lassen. Schnell lernte er den Götterkult des Zweistromlandes kennen.
Sil bevorzugte es, durch die Gassen der Stadt und auf das Land vor den Toren zu gehen. Er wollte die Produktionsstätten der Menschenwesen aufsuchen. Die Bewohner E-rechs gewöhnten sich nach und nach an seine Erscheinung, an seinen Skaphander. Zuerst war man vor ihm davongelaufen und hatte sich in den Häusern und Hütten versteckt. Und das, obwohl jeder Bewohner wußte, daß sie, die Himmelssöhne, allen Menschen nur Gutes gebracht und ihnen Belagerung und Krieg erspart hatten. Wären nicht die Priester gewesen, von denen stets zehn oder fünfzehn Sil umgaben, und hätte ihn Ia-du-lin nicht ständig begleitet, würde wohl auch jetzt noch ein jeder vor ihm flüchten. So aber sah man, daß den Priestern und auch Ia-du-lin nichts geschah. Die Bettler und Sklaven waren die ersten, die herausfanden, wie ungefährlich es war, wenn man sich an die Hauswand drückte und den Zug passieren ließ. Von da an schlug das Verhalten vieler Menschen in dieser Stadt von einem zum anderen Tag um.
Bei seinem ersten Gang durch die Stadt betrachtete Sil die Bauten. Aus der Luft, vom fliegenden Ring her, bot E-rech einen kreisförmigen Anblick von ineinandergeschachtelten Wohnzellen. Unzählige Rinnen, die Straßen und Gassen, durchschnitten diesen Kreis, auseinanderlaufend, sich kreuzend und wieder begegnend. Lediglich die Bauwerke des Palastes am Rande der Stadt und das Tempelviertel im Zentrum mit seinen Monumentalbauten lösten sich wohltuend geordnet aus dem Wirrwarr der übrigen Stadtteile heraus.
Vom Boden her erkannte Sil, daß die meisten der Menschenwesen in Bauten aus mehreren Zellen wohnten, die einen engen, einfachen Hof umschlossen. Die Wände der kleinen Häuser waren aus gelbem Erdreich hochgeführt oder bestanden aus langen, dichtgeflochtenen Halmen.
Sil fand einmal nahe der Stadtmauer ein Haus mit einem Hof, der zur Gasse hin offen war. „Hier wohnt ein Wasserträger“, erklärte Ia-du-lin und wies auf die vielen großen und bauchigen Tonkrüge, die ringsherum den Hof säumten. Ein älterer Mann hatte eben einer Frau ein Gefäß mit Wasser gefüllt. Sie trug es auf dem Kopf hinweg. „Es ist A-kim, der bekannt ist wegen der Reinlichkeit und Frische seines Wassers, das er mit seinem Esel von einer Quelle weit vor der Stadt herbeischafft“, erzählte Ia-du-lin.
Sil sah durch eine Öffnung in das Innere der Wohnzellen A- kims. Aus Stroh geflochtene Matten bedeckten den Boden und die Wände. In einem großen Würfel aus gleichmäßig geformten, harten Steinen brannten Flammen. „Ein Herd aus Ziegeln ist das, auf dem A-kim sein Essen bereitet“, erfuhr Sil. Kleine rote, schwarze und dunkelbraune Gefäße geometrisch spärlich verziert, standen hier und da an den Wänden oder in den Ecken am Boden. Es waren Schüsseln und Töpfe.
Sil, Ia-du-lin und die Priester gingen weiter. Nahe dem Palast und um das Tempelviertel standen, so bemerkte der Raumfahrer, andere Häuser, größer und fester gebaut. Sie gehörten wohlhabenderen Menschen. Diese Häuser hatte man zu ebener Erde aus Ziegeln errichtet und darauf noch ein Stockwerk aus Holz und Lehmplatten gesetzt. In ihren zehn bis vierzehn Räumern waren alle Wände sorgsam glatt verstrichen und weiß gefärbt.
Tage später, als niemand mehr vor ihm davonlief und sich versteckte, bat man Sil, in eines dieser Häuser hineinzukommen. In ihm wohnte, wie sich herausstellte, der Dug-gur En-mer-kars, der Verwalter aller Lager des Herrschers. Er empfing Sil, Ia-du-lin und das Priestergefolge überschwenglich und mit großem Redeschwall. Sil hatte Mühe, durch die niedrige und enge Tür in das Haus zu gelangen. Es war auch schwierig für ihn, sich in den Wohnzellen der Menschenwesen aufzuhalten, weil ihm der Skaphander es erschwerte, sich in diesen Räumen zu bewegen.
Sil trat deshalb auf den großen, heilen und geräumigen Hof hinaus. Er war sauber mit Steinplatten ausgelegt, und seine Mitte schmückte ein Brunnen. An mehreren Stellen blühten Blumen und grünten Pflanzen. Rundherum waren Räume, die man vom Hof her betreten konnte. Die Türöffnungen ließen sich alle durch schwenkbare Holzplatten verschließen. Es gab sogar viereckige Fensteröffnungen, die, wenn sie nicht gleichfalls mit einer Holztafel zu verdecken waren, zumindest mit einem Gewebe oder einem Fell verhängt werden konnten.
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