»Wir werden also mehr oder weniger in der Zeit zurückgehen, die Bedingungen wiederherstellen, die existiert haben, kurz bevor der große Computer eingeschaltet wurde, und dann praktisch wiederholen, was sie getan haben«, sagte sie, um sich selbst Klarheit zu verschaffen.
»Richtig. Und die Eigenreparatur- und Korrektur-Schaltungen werden sich mit dem Schaden befassen. Sie sind eingebaut worden, weil niemand wußte, ob wirklich alles hundertprozentig in Ordnung war, ob man nicht irgendeinen Fehler bei der Konstruktion oder beim Bau gemacht hatte. Das Programm ist deshalb selbstkorrigierend; wenn es auf eine Stelle trifft, die nicht korrekt ist, verändert es sie so, daß sie dem Programm entspricht.«
»Und was machen wir zuerst?« fragte sie.
Er lachte wieder.
»Zuerst gehen wir durch diesen Korridor da. Es gibt einen großen Kontrollraum, nicht weit von hier — alle Korridore führen zu Kontrollräumen, für jede Rasse, die von hier ausgeschickt wurde, einer.« Wieder ging er voraus, und sie folgte ihm.
Sie erreichten eine sechseckige Tür, die sich wie eine Iris öffnete, und im Inneren wurde es hell. Sie sahen eine Art Kontrollraum mit vielen Schaltern, Knöpfen, Hebeln, Tasten und dergleichen, und mit einem großen, schwarzen Projektionsschirm, Riesige Skalen und Meßinstrumente zeichneten auf; sie wußte nicht, was; es gab keine Möglichkeit, sich darüber klarzuwerden, was irgendeine der Anlagen leistete.
Ein Tentakel berührte eine kleine Tafel an einer Steuerkonsole und schaltete ein Gerät ein, das ein Sichtschirm zu sein schien, in Wirklichkeit aber ein versenkter ovaler Tunnel war, hineinreichend, so weit man blicken konnte, ein gelblichweißes Licht mit Milliarden winziger schwarzer Punktchen. Zwischen allen schossen starke kleine Stromblitze oder ähnliches hin und her, einen heftigen Energiesturm erzeugend, ein zuckendes Spinnengewebe belebter Energie.
»Zuerst kommst du dran«, murmelte Brazil.
Man hörte plötzlich das Geräusch einer mächtigen Pumpe tief im Inneren des Planeten oder das Schließen und Öffnen eines Relais. Es klang beinahe wie das schlagende Herz eines gigantischen Tieres.
»Ich steigere nur die Energiezufuhr«, erklärte er. »Keine Angst. Die Skalen, Schalter und so weiter hier sind Steuerelemente für die Mechanismen. Kleinere Arbeiten wie die kann ich ohne Steuerung ausführen, aber später werden wir sie brauchen. So, das müßte genügen.«
Im ganzen Kontrollraum war ein gleichmäßiges, alles durchdringendes Pochen zu hören.
»Gut, großer Kontrollraum volle Energiezufuhr«, murmelte er vor sich hin. »In… Betrieb!«
Die Welt schien rings um Mavra zu explodieren. Das Gesichtsfeld erweiterte sich auf fast 360 Grad, Gehör, Geruch, alle Sinne schnellten zu einer neuen Intensität hinauf, wie sie das noch nie erlebt hatte. Sie konnte die Energien ringsum fühlen und wahrnehmen, die ungeheuren Spannungsanstiege spüren, die plötzlich so greifbar waren, daß es schien, als könnte sie die Hände ausstrecken und sie festhalten, sie drehen und wenden, wie sie wollte. Es war ein ungeheures, berauschendes, zu Kopf steigendes Gefühl, ein Auffluten von Kraft und Macht ohne Grenzen. Sie war Superfrau, sie war eine Göttin, sie war das Allerhöchste…
Sie richtete ihre neuen Sinne auf Brazil und sah nicht länger das häßliche, mißgestaltete Wesen, das er geworden war, sondern einen gleißenden Strahl schier unerträglichen Lichts, eine hochragende Gestalt von fast unfaßbarer Schönheit, Kraft und Energie.
Sie griff nach ihm, nicht mit ihrem Körper, sondern mit ihrem Denken, und er schien zu antworten mit einem Strom wissender Energie, begegnete ihr und verschmolz mit ihrer Ausstrahlung.
Dann zuckte sie einen kurzen Augenblick zurück oder versuchte es zu tun. Die ersten Empfindungen, die sie von ihm erhielt, waren nicht die eines gottähnlichen Geschöpfes gewesen, das er ohne Zweifel war, sondern sie vermittelten eine unfaßbar tiefe, qualvolle Einsamkeit, so schmerzhaft, daß sie kaum zu ertragen war. Mitleid überwältigte sie, und sie trauerte darum, daß solche Größe so viel Elend und Qual zu tragen hatte. Die Tiefe des Elends war so unermeßlich wie seine gottgleiche Größe und Macht, so stark, daß sie davor zurückscheute, wieder hinauszugreifen, Verbindung herzustellen, aus Angst, die grauenhafte Qual könnte sie vernichten. Da weinte sie um Nathan Brazil, und im Weinen begriff sie endlich die Wesenstragik in ihm.
»Hab keine Angst«, sagte er leise, sich wieder darbietend. »Ich habe es jetzt besser in der Hand. Aber du mußtest es wissen. Du mußtest begreifen.«
Zögernd griff sie wieder hinaus, und diesmal war es erträglicher. Aber es war ein viel zu großer Teil von ihm, um ganz verdrängt zu werden; es durchtränkte sein ganzes Wesen, das Innerste seiner Seele, und selbst der Anhauch war beinahe zu vernichtend.
Nun begann er zu sprechen. Nein, nicht zu sprechen, zu übertragen, direkt auf sie, mit der Schnelligkeit seines Denkens, das gesammelte Wissen von Nathan Brazil über das Funktionieren des Schachtes der Seelen, die Markovier-Physik, die Geschichte der Experimente, alles über Gesellschaft, Unternehmen und Ziele der Markovier. Und sie begriff, was er mit ihr getan hatte, erkannte zum erstenmal, daß auch sie eine Markovierin war und, was die reinen Erkenntnisse über den Schacht betraf, ihm gleichgestellt. Erkenntnisse, ja, aber keine Erfahrung, niemals Erfahrung. Denn die Erfahrung war untrennbar verwoben mit der grauenhaften Qual, die er durchlitt, und vor der er sie schützte, so gut er konnte.
Endlich war es vorbei, und er zog sich aus ihr zurück. Sie wußte nie genau, wie lange es gedauert hatte; einen Augenblick, eine Million Jahre, man konnte es nicht sagen. Aber nun kannte sie sich aus, wußte, womit er sich auseinandersetzen mußte, begriff, was ihr bevorstand, und wußte genau, was sie zu tun hatte. Sie begriff auch, daß er, um sie zu einer Markovierin zu machen, sie unmittelbar in den Primärcomputer eingespeist hatte, in das große Computerprogramm selbst. Sie war jetzt wie er und würde es bleiben, bis sie selbst die Daten im Supergehirn der Markovier löschte.
»Ich möchte, daß du kurze Zeit hier bleibst, bevor wir weitermachen«, sagte er. »Überprüf die Kontrollräume, lies die Meßergebnisse ab, sieh dir den Schacht der Seelen und das, was er hervorbringt, an. Bevor wir abschalten, mußt du wissen, was du zerstörst.«
Sie kannte die Regler nun, wußte sie zu gebrauchen. Langsam betrachteten sie gemeinsam das Universum.
Die Anlagen waren unfaßbar komplex und sprachen zu ihrem neuen Markovier-Gehirn mit seiner scheinbar unbegrenzten Aufnahmefähigkeit für Daten und ihre blitzschnelle Verarbeitung, so daß es leichtfiel, das Bekannte und das Unbekannte zu überblicken. Die Zeit verlor jeden Sinn für sie, und sie begriff, daß sie an sich keinen besaß, jedenfalls nicht für einen Markovier. Der Begriff allein war nicht mehr als ein mathematischer Behelf, anwendbar nur für einzelne umgrenzte Bereiche zu Meßzwecken. Sie hatte für sie beide keine Wirkung und damit keinen Sinn mehr, jetzt nicht mehr.
Sie sah Rassen, die quälend vertraut erschienen, und Rassen, fremdartiger als alles, was sie je gekannt oder erlebt hatte. Sie sah auch solche, die sie kannte: die Dreel, die dies alles ausgelöst hatten, die Menschheit, die Rhone, die Chugach und alle anderen. Es gab auch noch mehr, eine unglaubliche Zahl von ihnen, so viele einzelne denkende Wesen, daß es bedeutungslos wurde, sie aufzuführen.
Aber sie waren das Leben. Sie wurden geboren und wuchsen auf, lernten und liebten, und wenn sie starben, hinterließen sie ihren Kindern und diese den ihren ein Vermächtnis. Vermächtnisse der Größe, Vermächtnisse von Niedergang und Tod, Dinge, die ebenso herrlich wie grauenhaft waren, und das oft zur gleichen Zeit. Was sie sah, war Geschichte und Vermächtnis des markovischen Menschen.
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